© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Alle ein bißchen gleicher machen
Niedersachsen: Die rot-grüne Landesregierung setzt auf Gesamtschulen, schafft Noten in der Grundschule ab und will das Aufenthaltsrecht großzügig auslegen
Christian Vollradt

Mit der nötigen Einstimmenmehrheit ist am Dienstag in Hannover der Sozialdemokrat Stephan Weil zum neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten gewählt worden.

Damit stellt nach zehn Jahren erstmals wieder die SPD den Regierungschef im Land zwischen Ems und Elbe. Weils Kabinett gehören fünf Minister von der SPD sowie vier von den Grünen an, die mit Umweltminister Stefan Wenzel auch den Stellvertreter des Ministerpräsidenten stellen. Für die Ökopartei endet damit eine fast 19 Jahre währende Abstinenz von der Macht. Nicht zuletzt deshalb hat es sich der grüne Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Jürgen Trittin, nicht nehmen lassen, an der konstituierenden Landtagssitzung teilzunehmen; Trittin hatte als Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten von 1990 bis 1994 der ersten rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen unter Gerhard Schröder (SPD) angehört.

Der Koalitionsvertrag, dem die Parteitage von SPD und Grünen am vergangenen Wochenende zugestimmt haben, läßt wenig Zweifel darüber zu, wohin die Reise künftig geht. Während Weils Vorgänger David McAllister und Christian Wulff (beide CDU) gemeinsam mit der FDP angestrebt hatten, im Jahr 2017 die Neuverschuldung „auf Null zu fahren“, soll nach dem Bekunden der neuen Amtsinhaber die Schuldenbremse frühestens 2020 greifen. Um andererseits ein „Kaputtsparen“ des Landes zu verhindern, plant Rot-Grün eine Anhebung der Grunderwerbssteuer von 4,5 auf 5 Prozent. Außerdem soll die „stärkere Beteiligung hoher Einkommen und Vermögen“ durch Initiativen auf Bundesebene erreicht werden.

Unternehmerverbände kritisierten umgehend die geplanten Sonderabgaben auf Rohstoffe. Doch diese gelten offenbar der Verwirklichung höherer Ziele: „Eine zukunftsfähige Eine-Welt-Politik muß eine ressourcenschonende, klimaverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise im Interesse der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit verfolgen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Daß in diesem Zusammenhang die „Zurückdrängung der Massentierhaltung“, die Stärkung des Öko-Landbaus sowie der Ausschluß des ehemaligen Salzstocks Gorleben als Endlager für radioaktive Abfälle auf der Tagesordnung steht, versteht sich.

Besonders deutlich wird die Handschrift von Rot-Grün bei den Themen Bildung, Inneres sowie Gesellschaftspolitik. Schnellstmöglich, so heißt es, soll ein Gesetz zur Abschaffung der Studiengebühren vorgelegt werden, wobei mit deren tatsächlichem Ende wahrscheinlich nicht vor dem Wintersemester 2014/2015 zu rechnen ist. Wie zu erwarten, setzt die neue Regierung außerdem auf den weiteren Ausbau von Gesamtschulen: Diese können künftig bereits dann neu errichtet werden, wenn sie über drei Parallelklassen verfügen. Ermöglicht werden soll künftig auch die Zusammenfassung von Grund- und Gesamtschulen. Beim Ausbau der Ganztagsbetreuung haben Gesamtschulen Vorrang, so daß sie gegenüber Gymnasien bevorzugt sind – was hintenherum einen Anreiz für neue Gesamtschulen schafft. Grundsätzlich sollen die Gesamtschulen „einen Weg zum Abitur offenhalten“. Das Abitur soll (auch an Gymnasien) wahlweise nach acht oder neun Jahren möglich sein. An den Grundschulen sollen „Lernstandsberichte“ bis Klasse vier die Noten ersetzen, Sitzenbleiben soll „durch mehr Förderung“ überflüssig werden, die förmliche Laufbahnempfehlung am Ende der Grundschule wird abgeschafft. Stattdessen gibt es neue Lehrinhalte: „Weltoffenheit, Interkulturalität und Umweltbildung müssen in Kindergärten, Schulen und Hochschulen zum pädagogischen Alltag werden.“

In der Innenpolitik spricht man sich für die Kennzeichnung von Polizisten aus und „verfolgt die Schließung der Landesaufnahmeeinrichtungen als Gemeinschaftsunterkünfte und Ausreisezentren“ als Zeichen der neuen „Willkommenskultur“. Darüber hinaus sei Ziel der rot-grünen Koalition, „Abschiebehaft überflüssig zu machen“. Das humanitäre Aufenthaltsrecht müsse „großzügig im Sinne der Betroffenen“ angewendet werden: „Langjährig Geduldeten und hier Verwurzelten, deren mögliche Identitätstäuschung den Eltern zuzurechnen ist, muß die Paßbeschaffung erleichtert werden.“ Der Verfassungsschutz soll zwar nicht, wie von den Grünen gefordert, abgeschafft, jedoch reformiert und stärker parlamentarisch kontrolliert werden. Zudem werde man sich auf Bundesebene dafür einsetzen, daß die „Versagung der Feststellung der Gemeinnützigkeit“ von Vereinen künftig nicht mehr automatisch und ausschließlich wegen einer Erwähnung in den Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern erfolgt. Gleiches gelte für die Abschaffung der „Extremismusklausel“ als Voraussetzung der finanziellen Förderung – ein Geschenk an linksextreme „Antifa“-Initiativen.

Zu den gesellschaftspolitischen Zielen von Rot-Grün gehört „die vollständige rechtliche Gleichstellung der Regenbogenfamilien“. Denn: „Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und intersexuelle Menschen (LSBTTI) sind Teil unserer vielfältigen Gesellschaft.“ Daher strebe man die Aufnahme der „sexuellen Identität“ in das Diskriminierungsverbot der Landesverfassung an.

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