© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

CD: Industrial
Glanzstück zum Abschied
Georg Ginster

Hegels stures Beharren auf der klassischen Ästhetik liest sich im historischen Rückblick nicht bloß als Denknotwendigkeit seines Systems, sondern auch als weiser Rat, der Kunstschaffende vor Enttäuschungen bewahren soll. Nichts ist ermüdender als der beständige Versuch, von der angemaßten Autonomie der Kunst ausgehend mal diese, mal jene Grenze zu überschreiten.

Was heute neu und aufregend ist, wirkt morgen schon schal und bieder, da es entweder folgenlos blieb und nur noch musealen Zugang erlaubt, oder aber durch Epigonen rasch übertrumpft wurde und der Blick sich amüsiert auf die Fesseln, die dann eben doch nicht gesprengt werden konnten, richtet. Im günstigsten Fall kann man einer Avantgarde nachsagen, daß ihre Anstöße von der Massenkultur aufgesogen wurden. Dies ist jedoch die Ausnahme.

Wenn dem 1976 aus der Taufe gehobenen und 2010 verabschiedeten Projekt Throbbing Gristle mit schnalzender Zunge und ehrfurchtsvoller Stimme nachgesagt wird, es handele sich hier um den maßgeblichen Pionier dessen, was seither als Industrial firmiert, so sind Zweifel an dieser Legende erlaubt. Throbbing Gristle hat mit seinen exzessiven Performances der frühen Tage lediglich angejahrte ästhetische Konzepte eines Theaters der Grausamkeit zugespitzt, was seit den sechziger Jahren selbst in dieser Radikalität auch von anderen versucht wurde.

Die Frage nach der Relevanz wiederum ist zugleich jene nach dem Stellenwert des Industrial insgesamt. Dessen Einfluß auf die zeitgenössische Musik sollte nicht überschätzt werden. Der Verdacht steht im Raum, daß diejenigen, die sich als Angehörige seiner Hörergemeinde deklarieren, dadurch vor allem mit ihrer männlichen Unerschrockenheit prahlen wollen, dissonante Grausamkeiten und die diversen Abgründe, die es so gibt, zu ertragen. Mehr als eine zumal recht kleine Nische ist dies nicht.

Throbbing Gristle bargen stets jedoch auch andere Möglichkeiten, und dies haben die vier Künstler vor allem auf Nebenschauplätzen, mit ihren verhältnismäßig ballastfreien und vermittelbaren Bands Psychic TV, Coil und Chris & Cosey, bewiesen. Nach dem Ausscheiden von Genesis P-Orridge, der die Kunstfreude bis zum organischen Selbstexperiment getrieben hat, firmierte das verbliebene Trio unter dem Namen X-TG, mit dem Tod von Peter Christopherson ist auch dieses Projekt an sein Ende gelangt.

Das Vermächtnis ist eine Duo-CD (Industrial Records): „The Final Report“ rekapituliert noch einmal die Klangwelten von Throbbing Gristle in klinischer Form. „Desertshore“ hingegen ist ein Glanzstück zum Abschied. Noch von Christopherson konzipiert, bietet es Cover-Versionen aller Lieder der gleichnamigen, 1970 erschienenen LP der deutschen Schauspielerin und Sängerin Nico.

Wo dem Original die Gratwanderung zwischen Erhabenheit und Kitsch nicht immer glückte, gelangt die Neuinterpretation unter der Beteiligung unter anderem von Antony Hegarty, Marc Almond und Blixa Bargeld zu einer Schlüssigkeit von verblüffender Frische. Das verzweigte Nachwirken von Nico bei so unterschiedlichen Künstlern wie Peter Murphy, Lisa Gerrard, Mark Lanegan oder Soap & Skin war bereits bekannt. Dieses jedoch ist besonders bemerkenswert.

X-TG, Desertshore / The Final Report Industrial (Cargo Records), 2012 www.sonymusic.de

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