© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Bildungsreform
Begabung als Behinderung
Konrad Adam

In der guten alten Zeit, als die Erzieher noch keine Wissenschaftler waren, bestand Schule aus Lernen, Bildung aus Inhalten, Unterricht aus Fächern. Dann kamen die Reformer und wollten die Schule und das Lernen neu erfinden. Das war nichts Ungewöhnliches und ist immer wieder einmal vorgekommen, weil Bildung, um ihren Anspruch zu erfüllen, mit der Zeit gehen muß. Diesmal, vor dreißig oder vierzig Jahren, als die Reform so richtig in Schwung kam, verfuhr man allerdings nach einem ungewöhnlichen Rezept. Walter Benjamin hat es die „Brechtsche Maxime“ genannt und so beschrieben: „Nicht an das gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue!“ Das war natürlich ironisch gemeint, wurde von ein paar ehrgeizigen Pädagogen aber ganz ernst genommen. Das Ergebnis war ein Desaster, das Schüler überfordert, Lehrer entmutigt und Eltern zur Verzweiflung treibt. Zufrieden sind nur die Anführer der Revolte, die Stichwortgeber und Gewinner der Reform, die Wissenschaftler.

Der Pole Janusz Korczak gehörte nicht zu ihnen. Seinen Einsatz für die Kinder hat er durch die Tat beglaubigt, als er bei ihrer Verteidigung buchstäblich bis zum letzten ging. In einem seiner Texte berichtet er von der Hingabe, mit der die Kinder „Räuber und Gendarm“ spielen, und knüpft daran einige Gedanken über das, was man die moralische Unschuld der Jugend nennen könnte, dargestellt am Beispiel des Diebstahls. „Der Nachahmungstrieb, die lebendige Vorstellungskraft, das Bedürfnis nach Abenteuer, alles das zieht die Kinder an“, schreibt Korczak und berichtet von Jungen, die stehlen, um andere freizuhalten. Korczak erkennt darin ein Zeichen von kindlicher Naivität und nennt das Ganze ein interessantes, lustiges, komisches Abenteuer. Um dann einen Satz folgen zu lassen, der einem modernen Laissez-faire-Pädagogen kaum in den Sinn, geschweige denn von den Lippen kommen würde. Er lautet: „Man muß nur sagen, daß es schlecht ist, was da geschieht.“

Etwas ähnliches wird man in den Rahmenrichtlinien und den Handreichungen, den Zielvereinbarungen und den Kompetenzkatalogen, wie sie im Gefolge der Reformpädagogik zu Tausenden entstanden sind, nicht finden. Sie handeln von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung, durchweg schönen, aber ganz unbestimmten Eigenschaften, hinter denen sich meistens nichts anderes verbirgt als der Verzicht auf jede Art von Maß und Muster: ein hochgestochener pädagogischer Defätismus. Die Aufforderung, zwölfjährige Kinder mit dem Grundgesetz nicht etwa vertraut zu machen, sondern frank und frei darüber entscheiden zu lassen, ob sie sich seinen Regeln fügen wollen oder nicht, ist nur das bekannteste, beileibe nicht das einzige Beispiel für diese wissenschaftlich aufgedonnerte Anti-Pädagogik.

Das Ganze ist immer wieder als überfällige Reaktion auf die Auswüchse einer auf Zucht und Ordnung, Anpassung und Drill fixierten Erziehungsdiktatur verteidigt worden. Die Achtundsechziger erheben ja, mit welchem Recht auch immer, den Anspruch, die ersten gewesen zu sein, die das Schweigegebot, mit dem die Verbrechen des Dritten Reichs übertüncht worden waren, durchbrachen und das vielfach Verdrängte endlich zur Sprache brachten. Auch wenn das stimmen sollte: Als Begründung für eine Pädagogik, die keine war und keine sein wollte, taugt es nicht. Was wäre denn als Antwort auf die moralische Verwilderung des Dritten Reiches nötiger gewesen als eine Belehrung über die Grundzüge einer Moral, die diesen Namen auch verdient, dargestellt am Beispiel der Zehn Gebote, des Kategorischen Imperativs, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder des Grundgesetzes?

Die Zeiten, in denen progressive Lehrer ihren Unterricht zu Friedenszonen ausriefen und besorgte Eltern, die wissen wollten, wo ihre Kinder denn nun lesen und schreiben lernen sollten, mit der Antwort beschieden: „Zu Hause!“, sind glücklicherweise vorbei. Doch das Unheil, das im Namen einer zur Erziehungswissenschaft geadelten Pädagogik angerichtet worden ist, verliert sich nur allmählich. Was der zitierte Friedenslehrer wollte, hat er ja erreicht: mit der Folge, daß Kinder, die das Unglück hatten, bei ihm zur Schule zu gehen, für ihr Leben gezeichnet sind. Die Versäumnisse von damals hängen ihnen nach, im schlimmsten Fall bis heute.

Glück hatten nur diejenigen, die seinerzeit den erwähnten Lehrer beim Wort nehmen und zu Hause das nachholen konnten, was ihnen die Schule vorenthalten hatte: Kinder aus einem kulturell anspruchsvollen, bürgerlich genannten Milieu also. Unterstützt von ihren Eltern, konnten sie wettmachen, was ihnen der Lehrer schuldig geblieben war. Wer dazu keine Chance hatte, war arm dran.

Mehr für diejenigen zu tun, die weniger mitbrachten, war einer der Slogans, unter denen die Reformer angetreten waren. Sie schwärmten von Unterschichtenpädagogik und kompensatorischer Erziehung und versammelten sich unter der fröhlichen Devise: „Gleiche Lernziele – gleiche Lernerfolge“. Endlich sollte eingelöst werden, was Ralf Dahrendorf den Deutschen versprochen hatte, das Bürgerrecht auf Bildung. Geschehen ist das bis heute nicht, wie sich nicht nur in Berlin-Neukölln, sondern auch anderswo, in den sozialen Brennpunkten der Republik, besichtigen läßt.

Statt den Begriff Grund-Schule ernst zu nehmen und auf das frühe Lernen zu achten, wurde die Abiturientenquote zum ersten und einzigen Maßstab für das Bildungsniveau eines Volkes ausgerufen. Unter der stillschweigenden Billigung von hochmütigen Bildungsforschern ist keine andere Schulform so gründlich vernachlässigt und mißhandelt worden wie die einstige Volksschule. Alleingelassen mit der Jahrhundertaufgabe, Millionen von Einwanderern aus fremden, bisweilen sogar feindlichen Kulturen in Deutschland heimisch zu machen, wurde die Grundschule zum Stiefkind der Bildungspolitik: ein schlimmes Unrecht, das noch schlimme Folgen haben wird.

Die Grundschule ist zum Kramladen geworden, der alles mögliche im Angebot hat, nur nicht die sichere Beherrschung der sogenannten Kulturtechniken, des Lesens, des Schreibens und des Rechnens. Früher war das meiste davon bis zum Ende des ersten, spätestens des zweiten Schuljahres geschafft; heute gibt man sich mit der Handschrift keine Mühe mehr, fordert leseunkundige Kinder dazu auf, mit anderen, ebenfalls leseunkundigen Kindern eine „Schreibwerkstatt“ zu eröffnen und feiert, wenn alles gut geht, am Ende des dritten Schuljahres das sogenannte Buchstabenfest. So versündigt man sich an allen: an denen, die gar nichts mitbringen, nur noch etwas gründlicher als an den Bessergestellten. Wo es an allem fehlt, da fehlt ja auch das Geld für den Nachhilfeunterricht.

Gibt es, neben den beschämenden Ergebnissen der verschiedenen Pisa-Studien, ein handfesteres Indiz für das Versagen der Staatsschule als die Milliardenumsätze der blühenden Nachhilfeindustrie? Sie lebt davon, die Lücken zu schließen, die das öffentliche Schulwesen gelassen hat und immer wieder neu aufreißt. Von dieser Sumpfblüte der deutschen Bildungspolitik profitiert, wer es sich leisten kann; diejenigen, in deren Namen die Schulreform ausgerufen worden ist, also nicht. Die Kultusbürokratie ist allerdings auch hier um eine Antwort nicht verlegen. Sie will diesen schikanösen Wirtschaftszweig subventionieren, indem sie ihn der Sozialhilfe eingliedert: als ob sie ihr Talent beweisen wollte, jeden alten Skandal durch einen neuen zu überbieten! Die Wissensgesellschaft, von der die zuständigen Minister fabulieren, widerlegt sich doch selbst, wenn sie eine steigende Anzahl von Analphabeten und Bildungsverweigerern hervorbringt.

Um auch in dieser Krise mitzuhalten, hat die Erziehungswissenschaft die Behinderung als neues, vielversprechendes Arbeitsfeld entdeckt; und kennt auch schon die Lösung. Sie heißt „Inklusion“ und läuft darauf hinaus, die Ansprüche zu senken. Als Vorbild dient die älteste Art von Lernbehinderung, die Legasthenie. Wer glaubhaft machen kann, Legastheniker zu sein, kann schreiben, wie er will, es schadet nichts, da seine Rechtschreibleistung nicht bewertet werden darf, zumindest in der Schule nicht; im Leben sieht das dann natürlich anders aus. Da ist der Legastheniker arm dran, weil ein Bewerbungsschreiben, das von Fehlern strotzt, keinen guten Eindruck macht. Die Schule, die ihn so unzureichend auf das Leben vorbereitet hat, muß sein Versagen freilich nicht groß kümmern, weil wir ja, wie schon Seneca wußte, nicht für das Leben lernen, sondern für die Schule.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Behinderte verdienen Hilfe, aber keine Quote. Die deutsche Quotenseligkeit führt doch nur dazu, den Kreis der Begünstigten immer weiter zu ziehen und auch um solche zu vermehren, denen mit Anforderung und Anstrengung mehr geholfen wäre als mit irgendwelchen Sonderrechten. Inzwischen sind wir ja schon fast dabei, die Hochbegabung als eine spezifische Form der Behinderung anzusehen: Warum auch nicht, wenn sich die Sache so gut auszahlt? Ich kann mich heute noch darüber ärgern, daß ich als Kurzsichtiger nicht auf Behinderung geklagt habe. Wie hätte mein Zeugnis ausgesehen, wenn es mir gelungen wäre, als myoper Gymnastheniker von der Bewertung im Mannschaftssport freigestellt zu werden!

Inklusion ist die jüngste Mode; aber die Moden wechseln. Es ist noch gar nicht lange her, da galt die Sonderpädagogik als der letzte Schrei. Sie predigte das Gegenteil von dem, was heute propagiert und betrieben wird. Damals sind mit erheblichem Aufwand die Schulen eingerichtet worden, die mittlerweile mit ebenso großem Aufwand wieder aufgelöst werden. Gründe gibt es für beides, für Exklusion und für Inklusion; weshalb im Umgang mit behinderten, gestörten oder auffälligen Kindern der Einzelfall entscheiden muß.

Doch davon mag ein Fach, das letzte Wahrheiten verspricht, nichts hören. So tut die Pädagogik, um sich und anderen als Wissenschaft zu imponieren, gleich beiden Unrecht, den Schwachen und den Starken. Indem sie die einen mit den anderen zusammenspannt, verlangt sie von diesen zuviel, um von jenen zuwenig zu verlangen. Auf die Frage, wie Leistungssport „inklusiv“ zu unterrichten wäre, gibt es doch nur eine überzeugende Antwort: durch den Verzicht auf jede Art von Sport und Leistung.

Es ist dieser Hang, von einem Extrem ins andere zu fallen und durch den ewigen Wechsel ihren Gegenstand, die Schule, in Unruhe zu versetzen, der die wissenschaftlich ambitionierte Pädagogik so unerfreulich macht. Die frühe und dauerhafte Sonderung der Kinder nach Schularten zu überwinden, war seinerzeit, vor fünfzig Jahren, eine überfällige Idee, der Ruf nach Durchlässigkeit deshalb ja auch so populär. Ins Zwielicht geraten ist das ehrenwerte Vorhaben erst dadurch, daß Durchlässigkeit als Universalrezept gegen alles und jedes verschrieben wurde. Erst damit kam sie in Verdacht, ein anderes Wort für Angleichung nach unten zu sein. Perfekte Durchlässigkeit wäre ja erst dann erreicht, wenn überall gleich wenig, am besten gar nichts mehr verlangt würde. Dann würden Faulheit und Begabungsmängel nicht weiter auffallen; das Gegenteil freilich auch nicht.

Das ist die letzte Strophe eines alten Liedes: Wenn es schon nicht gelingt, die Schule gleich gut für alle zu machen, kann man ja immer noch versuchen, sie gleich schlecht für alle zu machen; das schafft noch jeder. Wo fängt das an, und wo hört es auf? Ist dem Gleichheitspostulat mit dem Gymnasium für Lernbehinderte Genüge getan, wie es tatsächlich schon gefordert worden ist? Muß man im Geographieunterricht auf Landkarten verzichten, weil einige Schüler sehbehindert sind und Höhenunterschiede nur ertasten können? Dürfen Mädchen im Hinblick auf das Inklusionsgebot zum gemeinsamen Sportunterricht gezwungen werden, oder sind sie, diesmal mit Rücksicht auf das Tole­ranzgebot, vom Schwimmen zu befreien? Und wie verwahrt man sich, falls man sie zwingt, gegen den unvermeidlichen Verdacht, den Islam als eine spezifische Form von Behinderung zu betrachten, die im Wege der Inklusion gleichgestellt, also überwunden werden muß? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Die Gleichstellungs-, Behinderten- und Ausländerbeauftragten aber auch nicht.

Was tun? Wie sich zur Wehr setzen gegen den immer härteren Zugriff des Staates, der Wirtschaft und der Wissenschaft? Auf welchen Wegen das Grundgesetz zur Geltung bringen, das die Erziehung der Kinder das Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht nennt? Indem sie sich von niemandem düpieren lassen und an ein paar einfachen Wahrheiten festhalten, zum Beispiel diesen: Daß jedes Kind das gleiche Recht auf die Entfaltung seiner unterschiedlichen Fähigkeiten hat. Daß Wissen auch dann bereichert, wenn sich mit ihm kein Geld verdienen läßt. Daß Bildung nach Inhalten verlangt, weil es einen Unterschied macht, ob ich die Sprache mit Hilfe von Lessing oder anhand von Werbetexten lerne. Und daß der Staat das Elternhaus ergänzen, aber nicht ersetzen kann. In einem Satz: daß Friedrich Fröbel, der bekannte „Kindervater“, recht hatte, als er meinte, Erziehung sei Beispiel und Liebe. Und ausdrücklich hinzufügte: sonst nichts.

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Einsamkeit der Konservativen in der Union („Muttis Ödnis“, JF 36/12).

Foto: Bewährter Frontalunterricht: Moderne Pädagogik versündigt sich an den Starken wie den Schwachen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen