© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Ein neuer Kreuzzug für Gerechtigkeit
Geschichtspolitik als moralische Rüstung: Der Holocaust als US-amerikanische Mission für eine künftige Weltinnenpolitik
Thorsten Hinz

Das Jahr 1989 markierte keineswegs das von Francis Fukuyama avisierte „Ende der Geschichte“. Niemand begriff das schneller als die Führungsmacht USA. Die Bedrohung der „freien Welt“, die im Kalten Krieg ihre Herrschaft über die westliche Hemisphäre begründet hatte, war mit dem Ende des Sowjetblocks entfallen. Der damalige US-Präsident George Bush senior sprach von einer „Neuen Weltordnung“; ihre Konturen zeichneten sich mit dem ersten Golfkrieg 1990/91 ab. Seinem demokratischen Nachfolger Bill Clinton war es vorbehalten, den ideologischen Unterbau nachzureichen. Er begann den amerikanischen „Crusade for justice“, den „Kreuzzug für Gerechtigkeit“, um die Restitution jüdischen Eigentums in Europa zu erreichen.

Der an der Universität Erfurt tätige Historiker Jan Surmann hat die Stationen und Akteure dieser Offensive in seiner Dissertation ausführlich thematisiert. Er konnte sich auf die Mithilfe amerikanischer und deutscher Institutionen und die Auskünfte hochrangiger Beteiligter stützen. Seine Darstellung ist entsprechend kenntnis- und faktenreich. Vorweggenommen sei allerdings auch, daß es der Arbeit streckenweise an historischer Tiefenschärfe und politischer Urteilskraft fehlt.

Die 1992 ins Amt gekommene Clinton-Regierung solidarisierte sich mit den Bemühungen jüdischer Organisationen, Eigentum von Juden zurückzuerlangen, das in den ehemaligen Ostblockstaaten und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geraubt oder beschlagnahmt worden war. Mit Stuart Eizenstat setzte sie dazu einen Regierungsbeauftragten ein. Eizenstat weitete den Wirkungsradius auf die westeuropäischen Staaten aus. Amerikanische Politiker, Bundesstaaten und Gerichte übten gemeinsam mit jüdischen Organisationen einen enormen Druck auf europäische Regierungen und Banken aus.

Besonders spektakulär verliefen die Auseinandersetzungen um die nachrichtenlosen jüdischen Konten in der Schweiz und um sogenanntes Raubgold. Auch die Bundesrepublik geriet in den Fokus und verpflichtete sich schließlich zu milliardenschweren Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter und zur Rückgabe von „Raubkunst“. Hohe Summen flossen auch in neue Stiftungen und Institutionen, deren Aufgabe es ist, die durch die Restitutionsforderungen angestoßenen Debatten in ein dauerhaftes, international verbindliches Holocaust-Gedenken zu überführen. Beispielhaft dafür war das „Stockholm International Forum on the Holocaust“ im Jahr 2000, auf dem der „Gründungsmythos einer neuen Weltinnenpolitik“ inszeniert wurde.

Der Kreuzzug für Gerechtigkeit folgte einem klaren außenpolitischen Programm der USA. Die Osteuropäer sollten auf eine Wirtschaftsordnung festgelegt werden, die auf der Respektierung des Privateigentums basierte. Gesellschaftspolitisch wollte man sie auf das westliche Verständnis von Menschenrechten und Rechtsstaat verpflichten. Drittens ging es darum, dem „Westen“, den der Sieg über den Ostblock ratlos und desorientiert gemacht hatte, mit der „Universalisierung“ und „Dekontextualisierung“ des Holocaust neue ideologische Korsettstangen einzuziehen.

Durch die „Amerikanisierung des Holocaust“ erneuerten die USA ihren Anspruch auf geistig-moralische und politische Führung. Der „Narrativ“ des Holocaust wurde zur „Parabel“ und zur „Ikone des absolut Bösen“ stilisiert und damit zum „Imperativ“ einer interventionistischen „Weltinnenpolitik“. Diese bedeutet in der Praxis nichts anderes als die Aufweichung staatlicher Souveränität und ihre Unterordnung unter transnationale – sprich: US-affine – Instanzen.

Dieser Extrakt, der sich aus dem vorliegenden Buch ziehen läßt, verweist auf weit mehr als auf eine „handlungsorientierte“ und „kulturell kodierte“ Geschichtspolitik der USA, die Surmann resümiert. Der Autor bleibt gegenüber den Selbsterklärungen der US-Akteure viel zu unkritisch. Darin gleicht er den deutschen Politikern und Journalisten, die sich seinerzeit als unfähig erwiesen, die moralisierenden Begrifflichkeit der Amerikaner auf ihre politische Funktion und Absicht hin zu analysieren.

Eine symptomatische Gedankenlosigkeit unterläuft ihm mit dem Satz, die Clinton-Regierung wollte eine „schnelle Rückgabe geraubter bzw. verstaatlichter Vermögenswerte durchsetzen, die keine Opfergruppe diskriminierte“. Die größte Opfergruppe, die eine Totalenteignung erlebte, sind jedoch die Deutschen aus den Ost- und den osteuropäischen Siedlungsgebieten. Weder sind sie nach 1989 entschädigt worden, noch sind die riesigen Vermögensübertragungen auf die Vertreiberstaaten irgendwo verrechnet worden.

Weitere Widersprüche bleiben unaufgelöst. Auf Seite 86 ist zu lesen, daß die Summe der auf den nachrichtenlosen Konten lagernden Gelder laut der Schweizerischen Bankiervereinigung 38,7 Millionen Schweizer Franken betrug. Die US-Regierung indessen ging von 200 Millionen Dollar aus, und auf Seite 151 heißt es dann, daß die Schweizer Banken am Ende 1,25 Milliarden Dollar zahlten. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Dazu findet sich bei Surmann nichts.

Trotzdem ist die Arbeit wichtig und verdienstvoll. Sie zeigt anhand zahlreicher Details und Vorgänge, daß die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik, die zu periodischen Hysterieschüben führt, in einem internationalen Kontext steht, ohne den sie sich nicht vollständig erklären läßt. Das Buch bestätigt, was der Heidelberger Historiker Detlef Junker schon vor gut zwölf Jahren zur „Amerikanisierung des Holocaust“ konstatierte: Die „ständige Konfrontation mit dem absolut Bösen gibt der amerikanischen Nation die immerwährende Möglichkeit, das Böse zu externalisieren und zugleich die Notwendigkeit der eigenen Mission, der freiheitlich-demokratischen Sendung, zu erneuern. Im Angesicht des Holocaust überzeugt sich die amerikanische Nation jeden Tag aufs neue, die einzig unersetzliche Nation der Welt zu sein.“

Jan Surmann: Shoa-Erinnerung und Restitution. Die US-Geschichtspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012, gebunden, 301 Seiten, 49 Euro

Foto: Ehemaliger US-Beauftragte für die jüdischen Restitutionen, Stuart Eizenstat, mit Miles Lerman, Abner Mikva und Elie Wiesel vom „US Holocaust Memorial Council“ (v.l.n.r.) auf der Washingtoner Holocaust-Era Assets Konferenz 1998: Enormer Druck auf europäische Regierungen

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