© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Als Moraltrompeter ungeeignet
Axel Springers Chefhistoriker und Kempowskis Untermieter: Walter Görlitz zum 100. Geburtstag
Rolf Möbius

Würde Walter Görlitz, der der Welt Jahrzehnte als Ressortleiter, ab 1955 für Kulturpolitik, ab 1969 für Zeitgeschichte, diente, heute bei seinem Nach-Nachfolger Sven Felix Kellerhoff einen beliebigen Text aus seiner Kolumne „Griff in die Geschichte“ einreichen, landete sie entweder im Papierkorb oder beim Verfassungsschutz. So ändern sich die Maßstäbe.

Galten die Publikationen des am 24. Februar 1913 nahe Stettin, in Frauendorf im Kreis Randow, als Sohn eines Psychiaters geborenen Görlitz bis in die 1980er Jahre noch als seriöse Vermittlung zeithistorischer Forschung zur NS-Ära, zur Wehrmacht, zur Militäropposition des „20. Juli“, zu Flucht und Vertreibung aus Ostdeutschland, so kam seine wertungsarme Arbeitsweise nicht nur bei den Springer-Blättern nach 1989 aus der Mode. Wer wie Görlitz, der im Oktober 1991 in Hamburg starb, nicht zum Moraltrompeter taugte, spielte im geschichtspolitischen Bewältigungstheater der Berliner Republik nicht einmal mehr eine Komparsenrolle.

Wie ganz wenige Publizisten formte Walter Görlitz das Bild der Westdeutschen vom Dritten Reich. Zugleich artikulierte er, was das kollektive Gedächtnis präsent hatte, wie das „Normalbewußtsein“ seiner Zeitgenossen die zwölf Jahre Lebenszeit zwischen 1933 und 1945 konservierte, und wie diese Erfahrungen partiell weiterhin handlungsleitend blieben. Der frühe Biograph Paul von Hindenburgs (1953), Adolf Hitlers (1952 und 1960) und der Verfasser einer der ersten Gesamtdarstellungen des Zweiten Weltkrieges (1951) rückte die versuchte „physische Ausrottung des deutschen und europäischen Judentums“ nicht ins Zentrum seiner Deutung der damals jüngsten Vergangenheit. Darin lag keine „zweite Schuld“ (Ralph Giordano), keine „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander Mitscherlich), da Görlitz den „Völkermord“ keineswegs „beschwieg“, sondern offen ansprach, aber sich selbstbewußt nicht dafür in Kollektivhaftung nehmen ließ. Denn die Vernichtungslager waren für ihn und die Mehrheit der Bundesdeutschen, der Juden in Israel und den USA noch nicht jene „metaphysischen“ Orte außerhalb der Weltgeschichte, die eine ersatzreligiösen Hunger befriedigende Gedächtnispolitik Ende der siebziger Jahre formulierte.

Wenn der kühle Zeithistoriker Görlitz sich ein Quentchen Emotion gönnte, dann in der Darstellung des Schicksals seiner zwölf Millionen ostdeutschen Landsleute, deren Heimat „unter polnischer und sowjetischer Verwaltung“ stand. Sein wohl nicht zufällig bestes Buch, eine Geschichte der ostelbischen „Junker“, erschien 1957 in zweiter Auflage. Vor das Titelblatt hat der Verfasser ein Foto des pommerschen Barons Ewald von Kleist-Schmenzin eingefügt, mit der huldigenden Unterschrift: „Einer der letzten preußischen Konservativen und einer der unbeugsamsten Gegner Hitlers (Hingerichtet nach dem 20. Juli 1944)“.

Die Darstellung klingt aus mit dem kurzen Kapitel über den vom ostelbischen Adel nach 1939 an der Front und in den Reihen der „Militärverschwörer“ gegen Hitler entrichteten Blutzoll, mit einigen Schlaglichtern über „das große Sterben und den großen Treck 1945“ sowie einem Epilog über die „Bodenreform“ in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR. Den von der SED nach bolschewistischem Muster inszenierten Landraub haben Görlitz’ Artikel in der Welt dem Unrechtsstaat auch im Zeichen der „Entspannungspolitik“ unentwegt vorgehalten. Fest in der Kontinuität des Anti-Kommunismus verwurzelt, durfte Görlitz sich auch mit diesen Attacken und seinem Eintreten für die kleine Wiedervereinigung einig wissen mit dem Gros der Bundesbürger, zuvörderst aber mit seinem Verleger Axel Springer.

Görlitz, zeitweise als Untermieter bei Familie Kempowski in Rostock wohnend und als kauziger „Schriftsteller Wirlitz“ in Walter Kempowskis „Deutscher Chronik“ verewigt, etablierte sich seit 1936 als bienenfleißiger Biograph, jedes Jahr ein Werk liefernd, dabei eine Spannweite von Kleopatra bis Mussolini erreichend. 1940, im Zeichen des Hitler-Stalin-Paktes, porträtierte er elf „Russische Gestalten“. Vor allem der Bakunin-Essay, der leicht auf politisches Glatteis hätte führen können, weist bereits den ganzen Görlitz aus: den gegen Ideologien immunen Historiker.

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