© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Der Flaneur
Ein Kampf im Tierreich
Toni Roidl

Ein Falke sitzt auf dem Boden des schneebedeckten Waldsaums und untersucht einen Gegenstand, was genau ist nicht zu erkennen. Ich bleibe still stehen und beobachte. Zwei große Saatkrähen hüpfen interessiert herbei. Der Falke schaut wachsam auf. Die beiden Krähen nähern sich respektlos. Aufdringlich krähen und krächzen sie lauthals.

Der Raubvogel scheint irritiert. Ihm behagt die Distanzunterschreitung offensichtlich nicht. Er hebt ab und schraubt sich ein Stockwerk höher in die Krone einer Buche. Die beiden dreisten Rabenvögel folgen ihm und landen auf dem Nachbarast. Sie schimpfen lauter und rücken Stück für Stück näher. Dem Greif wird es zuviel, er segelt übers Feld dem nächsten Waldrand zu. Die beiden Huckebeine hinterher. Sie bedrängen ihn im Flug, zwingen ihn zu Ausweichmanövern. Falke und Verfolger verschwinden im Wald, den weiteren Verlauf kann ich nicht mehr beobachten.

So sehr mich das außergewöhnliche Naturschauspiel fasziniert, ich bin irgendwie enttäuscht. Was sagt man dem stolzen Falken nicht alles für tolle Dinge nach. Seine sprichwörtlich hochspezialisierten Augen, seine perfekte Jagdtechnik, seine imposante Silhouette und eleganten Kreise am Himmel. Und hier läßt er sich von zwei halbstarken Aasfressern in die Zange nehmen und verscheuchen.

Das Fabelhafte des Vorgangs zwängt sich geradezu auf. Oder ist diese Interpretation zu subjektiv? Mein Hund hat noch mehr Krähen aufgespürt. Mit angelegten Ohren hechtet er über die Ackerfurchen und bellt mit tiefer Stimme. Der Krähenschwarm flüchtet flügelschlagend in die Lüfte. Ich seh’s gerne.

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