© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Merkel auf Besuch in der Türkei
Besonderer Saft
Thorsten Hinz

Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat der deutschen Kanzlerin erklärt, die Türkei sei de facto bereits Mitglied der EU, dafür sorgten die fünf Millionen Türken in Westeuropa. Ist das Größenwahn? Nein, Erdogan weiß, daß Blut ein ganz besonderer Saft und beständiger ist als Tinte, mit der Verfassungen und Loyalitätserklärungen unterschrieben werden.

Im kinderentwöhnten Deutschland, wo das Herkunftsrecht (ius soli) immer mehr das Abstammungsprinzip (ius sanguinis) ersetzt, will man von anthropologischen Wirkungsmächten nichts wissen. Der demographische Kraftprotz vom Bosporus hingegen bezieht das Blutsrecht in seine politischen Berechnungen ausdrücklich ein. Erdogans Erklärung ist ein Hinweis darauf, daß in multiethnischen Staaten die politischen Streitfragen auch eine brisante ethnische Dimension besitzen. Mag sein, daß Angela Merkel die privilegierte Partnerschaft mit der Türkei bevorzugt. Aber warum will sie dann die EU-Beitrittsverhandlungen intensivieren?

Man hat den Eindruck, daß in dieser Frage längst andere Kräfte die Regie übernommen haben: erstens die Angst vor einer ethnisch-religiösen Gewaltexplosion in Europa, zweitens eine unsichtbare Entscheidungsebene irgendwo zwischen Finanzindustrie und transatlantischen Interessenverbänden.

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