© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Pankraz,
Friedrich List und die Produktivkräfte

Ein chinesischer Wirtschaftsprofessor, befragt, woher denn die neuerdings zu beobachtende asiatische Begeisterung für Friedrich List komme, antwortete lächelnd: „Das ist unsere Liebe zu euch Deutschen. Früher hatten wir es mit Karl Marx, und heute haben wir es eben mit Friedrich List. Das ist wie bei der klassischen Musik: Früher hatten wir es mit Beethoven, heute haben wir es mit Bach, Johann Sebastian.“

Wirklich ernst gemeint war das natürlich nicht, aber auffällig bleibt der Trend allemal. Während in der offiziellen Pekinger Hagiographie nach wie vor Karl Marx vorgezeigt wird, kümmert sich in den universitären Wirtschaftsseminaren faktisch kein Aas mehr um Marx. Stattdessen geht es – flächendeckend, würde Pankraz zu sagen wagen – nur noch um Friedrich List.

Marx und Engels, heißt es (übrigens nicht nur in Peking, sondern zunehmend auch in Taipeh, Bangkok oder Rangun), seien immer nur auf den äußeren Strukturen der Wirtschaft, den sogenannten „Produktionsverhältnissen“, herumgeritten, während List von vornherein auf die inneren „Produktivkräfte“ gesetzt habe, auf die wirklich vorhandenen ökonomischen Potentiale in den verschiedenen Ländern, Regionen und Völkern. Und er habe damit die richtige, die einzig praktikable Theorie für die Errichtung blühender Wirtschaften geliefert. Friedrich List und niemand anders sei der wahrhaft adäquate Ökonom unserer Tage.

Die Botschaft klingt zunächst recht befremdlich, denn in Deutschland selbst spielen die ökonomischen Theorien von Friedrich List (1789–1846) nicht die geringste Rolle mehr. Man kennt den Mann, wenn überhaupt, nur noch als wortgewaltigen Vorkämpfer für den Deutschen Zollverein und für die Förderung des Eisenbahnwesens. Er war, obwohl strikter Liberaler und typischer „Vormärzler“, nicht für unbegrenzten Freihandel, sondern durchaus für Zölle. Nur sollten diese immer zeitlich begrenzte „Erziehungszölle“ sein, also Zölle, die die Entwicklung einer modernen Wirtschaft beförderten, sie nicht etwa verhinderten.

Gegen Adam Smith, den Urvater der absoluten Marktfreiheit, wandte List ein: „Wer Schweine erzieht, der ist nach seiner Ansicht ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. Das ist wider die Natur und gegen jede wirtschaftliche Vernunft.“ 1841 veröffentlichte er sein Buch „Das nationale System der politischen Ökonomie“, das mit Schärfe die Gegenposition zu Smith artikulierte und das inzwischen zu einer Art Bibel der asiatischen Wirtschaftswissenschaft geworden ist.

Eine der hervorstechendsten Thesen des Buches lautet: „Die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist unendlich wichtiger als der Reichtum selbst.“ Das Werk ist durchpulst von der Feier „produktiver Kräfte“, und gemeint sind damit geistige Kräfte, Ingenieurleistung, Unternehmungsgeist, Bildungs- und Ausbildungsniveau der jeweiligen Bevölkerung. Immer wieder kommt es darauf zu sprechen, daß eine Volkswirtschaft nicht in erster Linie von „allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten“ bestimmt sei, sondern daß die unterschiedlichen traditionellen und aktuellen politischen Faktoren die entscheidende Rolle spielen.

Zweifellos ist es nicht zuletzt Lists unverrückbarer Blick auf die je konkrete „politische Lage“, die in asiatischen und anderen sogenannten Entwicklungsländern so großes Interesse geweckt hat. List gilt dort inzwischen, und zwar völlig zu Recht, als theoretisch verläßlichste Auskunftei über Fragen industrieller Entwicklungsökonomie. Seine Lehren rücken nicht mit „westlichen“ Vorurteilen und hochgestochenen Vorbild-Modellen an, sondern schmiegen sich sorgsam an die räumlichen Vorhandenheiten an, ohne dabei an theoretischer Kraft nachzulassen. Sie liefern genau das, was heutzutage gebraucht wird.

Aber List ist dabei keineswegs zu einer Art Spezialökonom für Schwellenländer geworden, sein Einfluß wächst auch im Westen wieder, im selben Takt, in dem man allmählich realisiert, daß es ein Riesenfehler war, die alte „Nationalökonomie“ derart außer Kurs zu setzen, wie es tatsächlich geschehen ist. Denn sie verfügte noch über jene Breite des Ansatzes und jenen Zugang zum wahren Leben, der der heute dominierenden Wirtschaftswissenschaft so fehlt.

Deren Sündenfall kam, als man exklusiv auf das Geld zu schielen begann und Wirtschaft nur noch als bloße Geldvermehrungsmaschine wahrnahm. Man reduzierte die vielfältigen Antriebe des Menschen schlankweg auf zwei Grund- und Generalantriebe: Egoismus und Nutzenmaximierung. Allein Egoismus und Nutzenmaximierung, dozierte man nun, regeln die ökonomische Ratio, und eine solche extrem eingeschränkte Ratio ließ sich leicht mathematisch modellieren und in Computer einspeisen. Nur mit der Wirklichkeit hatte das bald nichts mehr zu tun.

Natürlich sind nackter Egoismus und mathematikgestützte Nutzenmaximierung zwei machtvolle Faktoren jedes Wirtschaftslebens, und die gewaltige Reklame. die man für sie in den Medien und an den business schools organisierte, tat ihre Wirkung. Die Masche lief eine Weile recht gut – aber das Desaster, wie es sich nun in der vielberedeten „Kapitalismuskrise“ abzeichnet, war von vornherein in ihr angelegt. Der Krug geht nur so lange zum Brunnen, bis er bricht.

Der Mensch ist nun eben mal kein bloßes Ego-Tier, das haben die Gegner des Philosophen und Großegoisten Thomas Hobbes, die Pufendorf und Lord Shaftesbury, schon im 17. Jahrhundert überzeugend dargelegt. Sie diagnostizierten, neben den negativen Antrieben, durchaus auch positive in der Menschennatur, eine „socialitas“, eine „Sympathie“, einen „moral sense“. Und sie forderten, daß diese positiven Instinkte durch systematische Erziehung herauszuarbeiten und zu stärken seien. Nur so könne, neben vielem anderen, auch ein wirklich freier Markt entstehen und erhalten werden.

Ob das auch die Chinesen, Burmesen und Thailänder so sehen? Ihr geliebter Friedrich List könnte dabei jedenfalls eine gute Brille abgeben.

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