© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Lockerungsübungen
Kontinuität des Unrechts
Karl Heinzen

In der Adenauer-Ära waren Kommunisten staatlichen Repressionen in heute unvorstellbarer Schärfe ausgesetzt. Dennoch unterläuft es mitunter sogar der Linken, die Gründerjahre der Bundesrepublik zu beschönigen. So präsentierte ihre Wiesbadener Landtagsfraktion vor knapp zwei Jahren eine von dem Historiker Hans-Peter Klausch erarbeitete Studie, der zufolge dem hessischen Parlament in seinen ersten Wahlperioden bloß 75 Abgeordnete angehörten, die vor 1945 das Parteibuch der NSDAP besessen hatten.

Damit war jedoch nur die Spitze eines Eisberges sichtbar geworden. Nachforschungen des Marburger Wissenschaftlers Albrecht Kirschner förderten nun zutage, daß sich eine Mitgliedschaft in der NS-Partei bei 92 der 403 Parlamentarier nachweisen läßt, die vor 1929 geboren wurden. Darüber hinaus waren 26 Abgeordnete Mitglieder der SA und zwölf der SS oder der Waffen-SS.

Der Höhepunkt der NS-Unterwanderung war in der 5. Wahlperiode zwischen 1962 und 1966 erreicht. Hätten sich in ihr die ehemaligen Braunhemden zu einer Fraktion zusammengeschlossen, wäre sie mit 34 Prozent der Mandatsträger knapp hinter den um Doppelmitgliedschaften bereinigten Sozialdemokraten die zweitstärkste im Landtag gewesen.

In all diesen Zahlen sind nur jene Fälle erfaßt, die sich sauber dokumentieren lassen. Es ist daher von einer erheblichen Dunkelziffer und einem noch dramatischeren Ausmaß der NS-Verstrickung auszugehen. Sicher könnte angeführt werden, daß all jenen, die sich zwischen 1933 und 1945 parteipolitisch engagieren wollten, dazu nur die NSDAP zur Verfügung stand. Auch ist nicht auszuschließen, daß sich der eine oder andere Nazi nach 1945 zumindest partiell geläutert hat.

Insgesamt ändert dies jedoch nichts an dem bestürzenden Bild einer personellen Kontinuität zwischen dem NS-Regime und der Bundesrepublik. Man muß also genau hinschauen: Wer sich zum Nachkriegsdeutschland des Grundgesetzes bekennt, kann sehr wohl ein Nazi sein. Damit gilt es in der Distanzierung vom Unrecht vor allem eine Frage zu beantworten: Wann ist die Bundesrepublik so geworden, daß man sich guten Gewissens zu ihr bekennen konnte? Vielleicht, und das ist zu befürchten, wurde dieser Wendepunkt noch gar nicht erreicht.

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