© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Der Flaneur
Spuren im Schnee
Paul Leonhard

Es ist ein Uhr, aber der Koch hat Mitleid mit uns. Als wir ihn fragen, drückt er vor der Schankwirtschaft gerade seine Zigarette aus. Tatsächlich bekommen wir noch ein Bier, auch wenn schon längst Ausschankschluß ist. Wir stehen am Tresen, umzingelt von Wirt, Bedienung und Küchenchef, die ihre Abrechnung machen. Man tauscht sich aus über die Neuigkeiten in der Stadt. Immerhin haben ein paar Dutzend Gäste ihre Geschichten hinterlassen. 50 Portionen hat die Küche ausgereicht. Nicht schlecht in der Nebensaison, meint der Wirt. Es habe sich gelohnt, nicht wie die Nachbarkneipen links und rechts den Winter über zu schließen.

Wir brechen auf. Öffnen die eisenbeschlagene Tür und staunen. Die Stadt ist von einem hellen Weiß übertüncht. Überzuckerte Fassaden, Brunnen, Portale. Eine Märchenlandschaft, so kräftig hat Frau Holle die Betten ausgeschüttelt. Und sie schüttelt noch immer. Schneeflocken wirbeln durch die Luft. Du raubst der Neptunfigur ihren weißen Kopfschmuck, um mir hinterhältig davon eine Handvoll in den Nacken zu schütten. Kalt und naß rinnt es mir den Rücken herab, aber ich räche mich. Greife Schnee von einer Kühlerhaube, forme ihn zur Kugel und werfe ihn dir hinterher. Denn du bist getürmt. Eine Schneeballschlacht bahnt sich an. Natürlich kriege ich dich, will dich einseifen, und du juchzt schon vorher auf.

„Bürger“, sagt da eine tiefe Stimme. Sie kommt von unten, aus einem weiß-blauen Auto, das sich unbemerkt herangeschlichen hat. „Bürger“, tönt es noch einmal vorwurfsvoll, und der Zeigefinger einer von einem schwarzen Lederhandschuh geschützten Hand tippt auf das Zifferblatt einer Armbanduhr. „Bong“ macht es in diesem Moment. Und noch dreimal. Die Rathausuhr meldet sich gewaltig zu Wort. Sie verkündet die volle Stunde. Und mit etwas tieferem Ton schlägt es noch dreimal. Der Polizeiwagen rollt weiter, eine Spur im frischen Weiß hinterlassend. Und auch wir trollen uns heimwärts. Du kicherst.Wir sind die ersten, die an diesem Morgen Spuren im Schnee hinterlassen.

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