© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

„Ich habe ihn nicht gewarnt“
NSU: Der Untersuchungsausschuß wundert sich über neue Listen und wird von einem V-Mann-Führer überrascht
Marcus Schmidt

Wer viel Lärm macht, lenkt mitunter ungewollt von anderen, vielleicht wesentlich wichtigeren Dingen ab. Das zeigte sich in der vergangenen Woche im NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages am Beispiel der sogenannten Garagenliste.

Die Mitglieder des Ausschusses wurden in der vergangenen Woche von der Mitteilung des Bundeskriminalamtes überrascht, daß auch noch eine zweite vom mutmaßlichen NSU-Mitglied Uwe Mundlos verfaßte Adressiste existiert. Sie sei „einigermaßen schockiert“, sagte die SPD-Obfrau im Ausschuß, Eva Högl, und sprach dabei auch für ihrer Kollegen. Denn die beiden Adreßlisten, die 1998 bei der Durchsuchung dreier von Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe angemieteten Garagen in Jena gefunden wurden, sind aus heutiger Sicht „Blaupause für eine erfolgreiche Fahndung“, wie es CDU-Obmann Clemens Binninger formulierte. Sie enthalten unter anderem Kontaktadressen in Chemnitz, die es den Fahndern damals ermöglicht hätten, das Trio relativ schnell nach dem Untertauchen wieder aufzuspüren. Aber die Listen wurden 1998 als nicht relevant eingestuft und verschwanden in der Asservatenkammer.

Doch durch den Trubel um die Garagenlisten geriet ein interessantes Detail aus der Befragung des ehemaligen Thüringer Verfassungsschutzmitarbeiters Norbert Wiesner völlig in den Hintergrund. Dieser hatte den verblüfften Abgeordneten berichtet, daß er am Nachmittag des 4. November 2011, dem Tag an dem Böhnhardt und Uwe Mundlos in dem von ihnen gemieteten Wohnmobil in Eisenach starben, vom Leiter der Polizeidirektion Gotha angerufen worden sei. Der Polizist habe von ihm wissen wollen, wo sich Beate Zschäpe aufhalte.

Wenn dieses Telefonat an diesem Tag tatsächlich so stattgefunden hat und Wiesner, der zu diesem Zeitpunkt übrigens bereits pensioniert war, die Erinnerung keinen Streich gespielt hat, erscheint das Auffliegen des mutmaßlichen Terrortrios in einem völlig neuen Licht. Denn bisher war man auch im Ausschuß davon ausgegangen, daß die Polizei erst am nächsten Tag nach der Obduktion der beiden Leichen wußte, daß es sich dabei um Mundlos und Böhnhardt und damit um die Weggefährten der mit ihnen 1998 zusammen untergetauchten Zschäpe handelte. Die Öffentlichkeit erfuhr sogar erst am 8. November von diesem Zusammenhang. Wußten die Behörden also tatsächlich bereits unmittelbar nach den Ereignissen in Eisenach, um wen es sich bei den beiden Bankräubern handelt? Die irritierten Ausschußmitglieder kündigten jedenfalls an, der Sache auf den Grund zu gehen.

Wiesner konnte damals übrigens keine Auskunft über den Aufenthaltsort Zschäpes geben und verwies die Polizisten an Ralf Wohlleben, der sich ab April zusammen mit Zschäpe in München vor Gericht verantworten muß. Doch daß ihm, dem Pensionär, damals von der Polizei überhaupt die Frage nach Zschäpe gestellt wurde, legt einmal mehr die Rivalitäten und Grabenkämpfe der Thüringer Sicherheitsbehörden offen. Denn von seiten der Polizei in Thüringen wurde in der Vergangenheit immer wieder der Verdacht geäußert, das Landesamt für Verfassungsschutz wisse mehr über das Verschwinden und den Verbleib des Trios als es zugebe.

Aus der gleichen Richtung stammt der Vorwurf, Wiesner habe Tino Brandt, den Kopf des Thüringer Heimatschutzes, dem auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe angehörten, vor Durchsuchungsaktionen informiert. „Ich habe ihn nicht gewarnt, ich wußte von den Aktionen des Landes-kriminalamtes nichts“, sagte Wiesner, der Brandt als V-Mann angeworben und zeitweise geführt hatte. Brandt hatte sich bis zu seiner Enttarnung im Jahr 2001 gegenüber anderen Rechtsextremisten damit gebrüstet, er werde stets vorab über Aktionen der Polizei gegen ihn informiert.

Mit dem Auftritt des ehemaligen V-Mann-Führers Wiesner streifte der Untersuchungsausschuß ein zentrales Thema bei der Aufarbeitung der dem NSU zugeschriebenen Mordserie. Denn immer wieder stolpern die Abgeordneten bei ihrer Arbeit im Umfeld von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe über V-Leute. Doch nicht erst die insgesamt wenig ergiebige Befragung Wiesners hat gezeigt, daß der Ausschuß bei der Beantwortung der entscheidenden Frage, was der Verfassungsschutz wirklich über Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wußte, kaum vorankommt.

Foto: NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages: Rivalitäten und Grabenkämpfe der Thüringer Sicherheitsbehörden

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