© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

Die Früchte des Aufstiegs
Führungsanspruch: Die Rede von den Grünen als Vertretern einer „Neuen Bürgerlichkeit“ ist unscharf
Thorsten Hinz

Die Medien und die politische Publizistik stellen die Grünen als Vertreter und Repräsentanten eines „Neuen Bürgertums“ beziehungsweise einer „Neuen Bürgerlichkeit“ dar. Die Variante „Neue Bürgerlichkeit“ wird weitaus häufiger benutzt, was einen Hinweis auf die Unschärfe des bezeichneten Phänomens gibt. Während der „Bürger“ beziehungsweise das „Bürgertum“ historisch und soziologisch einigermaßen klar definiert sind, ist die „Bürgerlichkeit“ im Sprachgebrauch eine im Ungefähren verschwimmende Ableitung.

In den Beschreibungen der „Neuen Bürgerlichkeit“ werden vor allem Äußerlichkeiten aneinandergereiht: Ihre Träger sind besserverdienend, leben in großen Altbauwohnungen, haben das Rosenthal-Geschirr und mehrgängige Mahlzeiten wiederentdeckt, sie planen ihre Altersvorsorge und schicken die Kinder zum Klavierunterricht. Sie sind ökologisch ausgerichtet und überdurchschnittlich gebildet, was immer das in Zeiten sinkender Bildungsqualität bedeutet.

Das sind überwiegend ästhetische Distinktionen, die auf einen sozialen Aufstieg verweisen. Worauf er beruht und wie er legitimiert ist, bleibt indes offen. Der Zeithistoriker Paul Nolte zählt die „Selbständigkeit“ zum „Kernwert von Bürgerlichkeit“. Allerdings definiert er sie „nicht im Sinne von (einem) mittelständischen Unternehmer oder einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz“ sondern als „die Fähigkeit, selbständig sein Leben zu führen, sein Leben im Griff zu haben und eine selbständige Existenz in diesem ganz weiten Sinne sich zu entwerfen“. Noltes Erklärungsversuch führt nicht weit. Dann dürfte sogar der Aussteiger auf der Straße, der damit seinem Lebensentwurf folgt und zufrieden mit ihm ist, sich als Bürger bezeichnen.

Unbestreitbar ist der soziale Prestigegewinn für diejenigen, für die der Begriff Verwendung findet. Das Prestige leitet sich vom „alten“, vom „historischen“ Bürger her beziehungsweise von den Vorstellungen ab, die sich mit ihm verbinden. Im Marxismus ist die historische Stellung des Bürgertums (pejorativ: der Bourgeoisie) eindeutig fixiert: Es verfügt über das Privateigentum an den modernen Produktionsmitteln. Entstanden im Schoße der Feudalgesellschaft, sorgte die Bourgeoisie für die ökonomische und finanzielle Basis des Staates. Politisch jedoch war sie rechtlos und sah sich von Kirche und Adel als Melkkuh mißbraucht. Als Reaktion auf seine politische Exklusion proklamierte der Bourgeois sich zum Citoyen und drängte darauf, als vollberechtigter Staats-Bürger anerkannt zu werden und über die Verteilung der Steuern mitzuentscheiden.

Gelungene Bürgerlichkeit umfaßt also zwei Elemente: die ökonomische Selbständigkeit, die Leistung und Selbstverantwortung voraussetzt. Zweitens die Fähigkeit, über den persönlichen und Standesegoismus hinauszuschauen und Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Beide Elemente gehören zusammen. Ein Nur-Bourgeois wird zum gewissenlosen Spekulanten, der Nur-Citoyen zum Jakobiner, der die Revolutionierung der Gesellschaft um ihrer selbst willen beziehungsweise aus Egoismus betreibt.

In Deutschland, wo sich das Industrie- und Finanzbürgertum erst spät emanzipierte, spielte zudem das Bildungsbürgertum eine herausragende Rolle, das sich zuerst im absolutistischen Verwaltungsstaat herausbildete und Beamte sowie freie und akademische Berufe – Professoren, Richter, Anwälte, Ärzte, Künstler usw. – umfaßte. Die Vorstellung von Bürgertum schließt daher Kultiviertheit, Bildung, Vergeistigung und ästhetische Verfeinerung ein.

Im Zeitalter des Shareholders, des flottierenden Managers, der geschleiften Hierarchien und Klassengrenzen besitzen solche Maßstäbe nur noch begrenzte Gültigkeit. Die Enteignungen durch Inflation, Bomben und Vertreibung sowie die auf Egalitarismus ausgerichtete Politik in beiden deutschen Staaten haben für eine antibürgerliche Tabula rasa gesorgt. Was für eine „Neue Bürgerlichkeit“ ist in dieser Ödnis entstanden? Wie muß ein „Neues Bürgertum“ beschaffen sein, um sich durch die grüne Politikerriege repräsentiert zu fühlen?

Unter den grünen Politikern sind ja bemerkenswert viele, die im Studium oder Berufsleben gescheitert sind – Volker Beck, Joschka Fischer, Katrin Göring-Eckardt, Claudia Roth und andere – und sich im Politikbetrieb sozial absichern. Aber auch die Milieus, welche die Grünen stützen, sind teilweise erst durch die Politisierung der Gesellschaft, die von den Grünen vorangetrieben wird, generiert worden. Ihre Domäne ist der aufgeblähte öffentliche Dienst. Man muß also sehr genau hinsehen, welche Professoren, Angehörige des akademischen Mittelbaus, Chefredakteure, Verlagsmitarbeiter, Journalisten, Steuerberater und sonstige Selbständige, die grün wählen, tatsächlich als Nachfolger des Bildungsbürgertums gelten können. Die Zerstörung des Humboldt-schen Bildungsideals datiert nicht seit „Bologna“, sondern setzte bereits mit den technokratisch-egalisierenden sozialdemokratischen Reformen in den 1960er Jahren ein und wurde von den Grünen konsequent fortgeführt.

Die deutsche Universität nach Humboldt erstrebte die Verbindung zwischen neuhumanistischer Bildung und wissenschaftlichem Pragmatismus. Die Philosophie bot die „sittliche Einstimmung“ auf das Studium. Die „sittlich-ideenhafte Führungsrolle“ des humanistischen Bildungsbürgers ist in den letzten Jahrzehnten zum „bloßen funktionellen Sachkönnen“ degeneriert, das mit „parteipolitischer Identifizierung“ und „geistigem Niveauabbau“ (Helmut Schelsky) verbunden ist.

Wenn Paul Nolte die Synthese aus Grünen und „Neuer Bürgerlichkeit“ mit dem Argument zu retten versucht, „daß die Anfänge des Bürgerlichen auch in einer Revolte liegen, in (einer) Revolution“, dann kann man ihm erwidern: Gewiß: Auch! Trotzdem hat der Vergleich keinen Bezug zur Gegenwart, denn der Citoyen-Attitüde der Grünen fehlen die bürgerlichen Gegengewichte, nämlich Bildung und abrechenbare Leistungen. Ihre Kernkompetenz ist die Politisierung aller Lebensbereiche. Unterstützt von den Medien – wo ihre Anhänger überproportional vertreten sind –, machen sie immer neue, vermeintliche Ungerechtigkeiten und Mißstände ausfindig, um ihnen anschließend durch steuerfinanzierte Ausländer-, Gleichstellungs-, Mißbrauchs- und Antidiskriminierungsbeauftragte, durch Sozialarbeiter, Gender- und Armutsstudien, Quoten und arbeitsintensive Vorschriften zu Leibe zu rücken. Die wirkungsmächtige Klientel, die so herangezüchtet und gleichfalls zum „Neuen Bürgertum“ gerechnet wird, rekrutiert sich, wie der linksnationale Publizist Jürgen Elsässer formuliert hat, wesentlich aus der „Lumpen-Intelligenzija“, die er mit Marx als den „Abhub der verkommensten Subjekte aller Klassen“ charakterisiert.

Selbst bei der technischen Intelligenz, den Naturwissenschaftlern und grünen Existenzgründern muß genau geprüft werden, ob sie wirklich Leistungsträger sind oder zu jenen Vertretern der instrumentellen Vernunft gehören, die messerscharf nachweisen, daß das Weltklima nur gerettet werden kann, wenn die letzten naturbelassenen Gegenden in Deutschland für neue Windparks geopfert werden? Spekulieren sie auf den Billionenkuchen, der durch die sogenannte Energiewende den Herstellern und Betreibern grüner Technologien zugute kommen soll? Sind sie statt Wertschöpfer bloß Subventionsfresser und Kostgänger des ideologiedurchseuchten Umverteilungsstaates? Sie hätten sich dann zwar die alten Statussymbole der Bürgerlichkeit angeeignet, ohne Bürger geworden zu sein.

Der Begriff „Neue Bürgerlichkeit“ dient der individuellen und kollektiven Selbstlegitimation und erfüllt einen politischen Zweck: Er verschafft diversen Grünenmilieus eine Corporate Identity, die sie als Elite kenntlich machen und in eine anerkannte Tradition stellen soll. Damit stärken sie ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch.

Unter soziologischem Gesichtspunkt bezeichnet die „Neue Bürgerlichkeit“ ein Phänomen, das in der nachstalinistischen Konsolidierungsphase der ehemaligen Ostblockstaaten ein Vorbild hat. Nachdem die kommunistische Bewegung ihre heroische Phase hinter sich gebracht hatte, wollte die Nomenklatura die Früchte ihres Aufstiegs genießen. Der jugoslawische Partei-Dissident Milovan Djilas schrieb vor fünfzig Jahren: „Die neue Klasse ist geschaffen. Sie ist auf der Höhe ihrer Macht und ihres Reichtums, aber sie hat keine neuen Ideen. Sie hat dem Volk nichts mehr zu sagen. Das einzige, was ihr zu tun bleibt, ist sich selbst zu rechtfertigen.“

Es dauerte noch dreißig Jahre, bis sie am Ende war.

 

Wie „bürgerlich“ sind die Grünen?

Die Grünen werden mehrheitlich als eine „bürgerliche“ Partei wahrgenommen. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Monatsmagazins Cicero (März-Ausgabe) hervor. Danach schreiben 57 Prozent der Bevölkerung den Grünen die Eigenschaft „bürgerlich“ zu. 35 Prozent stufen sie als „liberal“ ein, nur 27 Prozent als „links“. 21 Prozent halten die Partei sogar für „konservativ“. Die Befragungen fanden Anfang Februar statt, Mehrfachnennungen waren möglich. Unter den eigenen Anhängern sind es 78 Prozent, welche die Grünen als „bürgerlich“ einschätzen. Bei SPD-Anhängern sind es 68 Prozent, bei den Linken 62 Prozent. Und noch 52 Prozent der Anhänger von CDU/CSU meinen, die Grünen hätten ein „bürgerliches“ Profil. (tha)

Foto: Grünen-Spitzenpolitiker Cem Özdemir, Renate Künast, Jürgen Trittin und Claudia Roth ( v.l.n.r.): Politisierung aller Lebensbereiche

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