© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

CD: Titel
Fünfe und Einer
Jens Knorr

Fünf Kastraten und ein Mann waren nötig, um 1730 in Rom Leonardo Vincis Dramma per musica „Artaserse“ zur Uraufführung zu bringen. Schließlich war auf päpstliche Anordnung „Weibspersonen“ der Auftritt auf öffentlichen Bühnen verboten. Fünf Counter und ein Tenor sind nötig, um das Musikdrama so auf die Klangbühne zu bringen, daß es seine faszinierende Wirkung auch auf ein heutiges Publikum ausübt.

Leonardo Vinci – nicht zu verwechseln mit Leonardo da Vinci! – war einer der einstmals berühmtesten, heute jedoch fast in Vergessenheit geratenen Komponisten; sein „Artaserse“, im Todesjahr des um 1690 geborenen Komponisten geschrieben und uraufgeführt, ist eine der wichtigsten Partituren des Barock und der wohl größte Erfolg in der Geschichte der Barockoper überhaupt. Ihr feudaler Intrigen-
stadel kommt, wie üblich, in antiker Verkleidung einher: Den Artaserse, Sohn des ermordeten Perserkönigs Serse und Mörder des eigenen Bruders, weil er den fälschlich für den Mörder beider Vater gehalten hatte, will der Präfekt der königlichen Garden, der in Wahrheit der Königsmörder ist, ermorden, um selbst den Thron besteigen zu können. Nach drei Akten mit einander abwechselnden Rezitativen und Arien und einem einzigen Duett im dritten, ist die Intrige aufgedeckt, der Verräter entdeckt und, wer noch lebt, mit des Königs Gnade eingedeckt: lieto fine mit Schlußchor.

Weil sich das Hauen und Stechen jedweder politischen Klasse mittels Intrigendramaturgie so wunderbar zur Darstellung bringen läßt, ist der Barockoper auf dem zeitgenössischen Theater ihr Platz sicher. Aber Irrungen und Wirrungen finden auch in tieferer Schicht als der des Librettos und der äußeren Handlung statt, nämlich in der musikalischen. Der musikalisch codierte „gender trouble“ des barocken Menschen findet Resonanz bei dem modernen.

Denn was heißt für die Barockoper männlich, was weiblich, welche Stimme gehört welchem Körper, welches natürliche Geschlecht paßt auf welche soziale Geschlechterrolle? Heute geben Männer „mit Eiern“, wie der kroatsiche Countertenor und Mezzosopranist Max Emanuel Cencic (Jahrgang 1976) einmal klargestellt hat, jene Partien, die Männern ohne Eier auf den Leib geschrieben worden sind, und gibt sich der Tenor so lyrisch, wie sich ein Mann nur geben kann, ohne sich etwas zu vergeben.

Den Mann machen Philippe Jaroussky, Franco Fagioli und Yuriy Mynenko; Cencic in der Carestini-Partie und Valer Barna-Sabadus – „far da donne“ – machen die Frau. Und ausgerechnet der Mann mit der „natürlichen“, der Tenorstimme, Daniel Behle, hat den Intriganten auf die Klangbühne zu stellen, der mit verstellter Stimme, der echten als der falschen, singt.

Das Concerto Köln unter Diego Fasolis brettert prall vor Mitteilungsbedürfnis durch die Partitur, Spaltklang ist in, Mischklang out, um in die Spalten der Musik Leid und Lust einzulassen und aus ihnen zu entlassen. Die Jungen mit ihren jungen Stimmen tragen alle Konflikte zwischen Politik und Körper aus, so virtuos und expressiv, kühl aufgedröselt und doch unentwirrbar verfitzt, wie man die Allegorien des barocken Theaters sonst nur von der Hl. Cecilia, der Bartoli zu hören bekommt.

Die Aufnahme ist ein Wunderwerk!

Leonardo Vinci: Artaserse Virgin Classics www.emiclassics.com

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