© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

Nur ein Schlagwort seiner Gegner
Interpretationen zur „geistig-moralischen Wende“ in den achtziger Jahren
Karlheinz Weissmann

Allmählich werden die Jahre der späten Bundesrepublik geschichtsschreibungsfähig. So häufen sich die Untersuchungen, die nicht mehr journalistisch oder aus autobiographischer Perspektive vorgehen, sondern mehr oder weniger zünftig die Entwicklung seit dem „Machtwechsel“ von 1969 darstellen. In diesen Kontext gehört auch der Aufsatz von Peter Hoeres für die aktuelle Ausgabe (Januar 2013) der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Der Titel lautet „Von der ‘Tendenzwende’ zur ‘geistig-moralischen Wende’“. Wenn man sich darauf konzentriert und den etwas modischen Untertitel „Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren“ außer Betracht läßt, hat man es mit einer wohlfundierten und interessanten Untersuchung zur politischen Geistesgeschichte zu tun.

Im Zentrum stehen dabei die Hoffnungen und Befürchtungen, die sich seit dem Ölschock, den ersten Terroranschlägen und der Krise der Regierung Brandt-Genscher mit den Begriffen „Wende“ und „Tendenzwende“ verbanden. Ganz richtig weist Hoeres auf die Uneindeutigkeit der Bezeichnungen hin, die erst allmählich eine klarere Zuordnung erlaubte und selbst dann noch zu einer Inanspruchnahme von verschiedenen Seiten mit ganz verschiedenen Absichten führte. Insofern ist es wichtig, nicht erst mit dem aufsehenerregenden Kongreß unter dem Thema „Tendenzwende?“, der 1974 in der Münchener Akademie der Schönen Künste stattfand, oder dem Erscheinen des von Gerd-Klaus Kaltenbrunner herausgegebenen Sammelbandes „Signale einer Tendenzwende“ zu beginnen. Vielmehr ist die „Wende-Rhetorik“ vor dem Hintergrund jener „konservativen Welle“ zu deuten, die nach der großen Ernüchterung die Bundesrepublik zu erfassen schien, als Sozialdemokraten wie Liberale, wie Bürgerliche von der drohenden oder notwendigen Kurskorrektur überzeugt waren, vor allem aber davon, daß sich die ideologischen Vorzeichen umgekehrt hatten, denn: „Links ist nicht mehr in, links ist Scheiße.“ (Der Spiegel)

Sehr wenige blieben realistisch genug, um zu erkennen, daß es zwar eine gewisse Ernüchterung gab, aber weder Massenkonsum noch Permissivität von der Bevölkerungsmehrheit oder einflußreichen Minderheiten in Frage gestellt wurden. Diese Einschätzung hatte man in Führungskreisen der Union sehr rasch gewonnen, wo man der Diskussion über die Tendenzwende deshalb mit Vorsicht gegenüberstand, zumal sie die eigenen Modernisierungsabsichten und die Erschließung neuer Wählergruppen durch „weiche Themen“ in Frage stellte und zu einem Konfrontationskurs gezwungen hätte. Nur Franz Josef Strauß liebäugelte als Kanzlerkandidat wie als parteiinterner Konkurrent Kohls mit dem Slogan und sprach bei den Wahlen 1980 von der „politischen und geistigen Wende“, die er im Fall eines Sieges herbeiführen wollte.

Wenn Kohl sich den Begriff überhaupt zu eigen machte, dann nur in dem Sinn, daß er eine Floskel aufnahm, die umlief, inhaltlich ging er kaum über das hinaus, was auch sein Bündnispartner Genscher nach dem Seitenwechsel der FDP forderte: eine Korrektur der Wirtschafts- und Steuerpolitik, keinesfalls die Revision der Gesellschafts- und Deutschlandpolitik, die von der sozialliberalen Koalition eingeleitet worden war.

Die Angst der Linken und der linken Mitte vor einem roll back beruhte insofern auf Paranoia oder muß als agitatorischer Kniff betrachtet werden, um die eigene Gefolgschaft einzuschwören und das „schwarze“ Feindbild aufrechtzuerhalten. Hoeres schwankt zwischen beiden Deutungsmöglichkeiten, was angesichts der Quellenlage kaum verwundert, weist aber auch darauf hin, daß parallel zum rasch wieder wachsenden Selbstbewußtsein der Progressiven und dem höhnischen Ton, in dem nach 1982 über die „geistig-moralische Wende“ – die „GeMoWe“ – gesprochen wurde, das Regierungslager in die Defensive ging und Kohl die Begrifflichkeit rasch ganz fallenließ; schon in der ersten Regierungserklärung war nur diffus von „geistiger Erneuerung“ die Rede. Die Diskrepanz zu anderen Vertretern der „blauen Revolution“ konnte jedenfalls kaum größer sein. Denn in den angelsächsischen Ländern agierten Margaret Thatcher oder Ronald Reagan zeitgleich sehr viel selbstbewußter, und fanden eine breite Gefolgschaft für ihr Programm, das eine Kombination aus Nationalismus, Marktwirtschaft und Antikommunismus bot, damit aber auch auf Traditionsbestände zurückgreifen konnten, die in Westdeutschland nicht zur Verfügung standen.

Hoeres faßt das Ergebnis der Entwicklung in der Bundesrepublik dahingehend zusammen, daß spätestens „mit der Regierungserklärung Kohls … die ‘geistig-moralische Wende’ … zum Schlagwort ihrer Gegner geworden“ war, „und sie wurde bald auch zum Schlagwort der Konservativen, die das Ausbleiben eben jener Wende beklagten“. Tatsächlich hat sich wohl niemand so sehr an dem Begriff abgearbeitet wie Jürgen Habermas auf der einen, Günter Rohrmoser auf der anderen Seite. Das sprach bei aller Unterschiedlichkeit, wenn nicht Gegensätzlichkeit, für beider Überzeugung von der Bedeutung geistiger Faktoren – und für deren Überschätzung.

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte. Oldenbourg Verlag, München 2013, broschiert, 140 Seiten, 21 Euro

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