© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Lohnmisere durch den Euro
Armuts- und Reichtumsbericht: Schönfärberei und Verelendungsalarm liefern ein Zerrbild der Wirtschaftslage
Matthias Görtz

Als CDU-Sozialminister Norbert Blüm vor bald zwei Jahrzehnten versuchte, die Arbeitslosenstatistik um Asylbewerber und gemeinnützig Tätige zu erleichtern, empörte sich die Opposition. Seine SPD-Nachfolger mogelten mit Zahlen noch unverblümter – allerdings werden die frisierten Arbeitslosenquoten nun von der aktuellen CDU-Amtsinhaberin als Erfolg verkauft.

Dafür wird Ursula von der Leyen wegen des „Vierten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung“ der Schönfärberei bezichtigt: „Während die Lohnentwicklung im oberen Bereich positiv steigend war, sind die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt gesunken. Die Einkommensspreizung hat zugenommen“, hieß es in der ersten Fassung, bevor die FDP die Formulierung, die „sinkenden Reallöhne in den unteren Dezilsgruppen“ seien „Ausdruck struktureller Verbesserungen“, durchsetzte. Zunächst wurde noch beklagt, die Einkommensspreizung (erfaßt durch den Gini-Koeffizient) habe zugenommen. Im Jahr 2000 lag der Gini-Wert knapp über 0,25. 2010 waren es etwa 0,28. In der Endfassung steht das Gegenteil: „Die Ungleichheit der Einkommen nimmt derzeit ab.“ Wie das? Ganz einfach: Da 2005 der Wert bei über 0,29 lag und inzwischen etwas geringer ist, läßt sich dies schönreden.

Die SPD und Grüne griffen dies genüßlich auf, doch Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, daß die Umverteilung von unten nach oben mit Rot-Grün zunahm. 1998 besaßen die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung 45 Prozent des Gesamtvermögens – nach fünf Jahren Rot-Grün waren es 49 Prozent. Unter der großen Koalition waren es dann 53 Prozent. Ähnliches offenbart der Anteil des Niedriglohnsektors, der 1995 bei 17,7 Prozent und unter Schröder auf über 22 Prozent wuchs. 2010 waren es 23,1 Prozent.

Ob es gerecht ist, daß die untere Hälfte der Bevölkerung nur ein Prozent des deutschen Gesamtvermögens besitzt, ist vor allem eine moralisch-philosophische Frage. Ökonomisch relevant ist, daß Niedriglöhner mit Steuermilliarden („Aufstocker“, JF 11/13) subventioniert werden müssen, und die Frage, wie sich die wachsende Ungleichheit auf Wirtschaftswachstum und die soziale Stabilität auswirken. Die als gerechter empfundene Einkommens- und Vermögensverteilung der früheren Jahre hat weder dem „Wirtschaftswunder“ unter Ludwig Erhard noch den Exporterfolgen der späten D-Mark-Jahre entgegengestanden. Der Bruch begann mit der Auflösung der „Deutschland AG“, also der Internationalisierung der verflochtenen deutschen Großbanken und Konzerne, in den späten Kohl-Jahren. Die Einführung des Euro verschärfte die Situation – vor allem für die Arbeitnehmer.

Seither sorgt die Europäische Zentralbank für einheitliche Leitzinsen. Für den EU-Süden mit seiner Konsum- und Immobilienblase „war die Geldpolitik zu locker, für Deutschland war sie zu restriktiv“, konstatieren die Ökonomen Karl Brenke und Gert Wagner im Wirtschaftsdienst (2/13). Die höheren Kreditkosten der Unternehmen wurden durch faktische Reallohnsenkungen ausgeglichen. Die Therapie half, doch die Wachstumsraten der inländischen Nachfrage fielen weiter „viel geringer aus als die außenwirtschaftliche Expansion, insbesondere der Konsum der privaten Haushalte hinkte nach“. Wurden 1991 noch Waren im Wert von 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes exportiert, so sind es nun 46 Prozent. Ohne den Euro hätte es die Lohnmisere nicht gegeben: „Der durch die schwache Lohnentwicklung erzielte Wettbewerbsvorteil auf den Exportmärkten hätte unweigerlich eine Aufwertung der nationalen Währung – in diesem Falle der D-Mark – nach sich gezogen. Der Vorteil wäre dadurch aufgezehrt worden“, so Brenke und Wagner.

„Vermögende und reicher gewordene Haushalte mögen zwar absolut gesehen viel ausgeben und sich auch Luxusgüter anschaffen, insgesamt aber sparen sie einen erheblichen Teil ihrer Einkünfte; ein Teil der Kaufkraft wird deshalb nicht genutzt“ – oder wandert ins Ausland. Da der Euro sakrosankt ist, empfehlen sie fürs Wachstum hohe Lohnsteigerungen und eine Vermögensabgabe für Bildung und Infrastruktur. Henry Ford konnte 1914 noch einfach entscheiden, den Tageslohn seiner Arbeiter auf fünf Dollar (entspricht einem heutigen Monatslohn von etwa 2.500 Dollar) zu verdoppeln. Doch in globalisierten Unternehmen ist das ähnlich illusorisch wie der Glaube, daß mit einer Abgabe wirklich „Besitzer großer Vermögen“ (die auf Steuersparmodelle von den Kanalinseln über die Karibik bis Delaware zurückgreifen können) und nicht der standortgebundene Mittelstand getroffen würde.

Aufschlußreich sind auch Details im Armutsbericht. So trügen „Paarhaushalte älterer Menschen“ dazu bei, „das Risiko der Altersarmut zu verringern“ – klar, wenn Oma und Opa sich Strom und Miete teilen wird’s billiger. Von der Leyen hat 2011 Hartz-IV-Bildungsgutscheine für Musikunterricht durchgesetzt. Warum? Weil „Jugendliche aus armutsgefährdeten Familien in Musikgruppen und Chören“ unterrepräsentiert sind. Ihre Gutscheine gelten aber auch für Sport – obwohl diese Armutsgruppe hierbei offenbar überrepräsentiert ist.

Daß „Familien mit drei oder mehr Kindern, mit einem Migrationshintergrund und Alleinerziehende überdurchschnittlich von Armutsrisiken betroffen“ sind, war bekannt. Daß 60 Millionen Euro für 77 Projekte des Ideenwettbewerbs „Gute Arbeit für Alleinerziehende“ oder 20 Millionen an 102 „Netzwerke wirksamer Hilfen für Alleinerziehende“ fließen, überrascht schon. Wieviel die „berufsbezogene Sprachförderung für Personen mit Migrationshintergrund“ und die „migrationssensible Gestaltung arbeitsmarktpolitischer Instrumente“ kostet, verrät der Bericht jedoch nicht.

„Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht“: bmas.de

Die Analyse „Ungleiche Verteilung der Einkommen bremst das Wirtschaftswachstum“: wirtschaftsdienst.eu

Foto: Putzfrau im Einsatz: 1995 arbeiteten nur 17,7 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor, bis 2010 stieg ihr Anteil auf 23,1 Prozent

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