© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Der Flaneur
Das hat sie nun davon!
Ronald Gläser

Auf einem Gangplatz hat eine Frau mittleren Alters Platz genommen. Sie hat einen Sitzplatz reserviert, scheint aber sonst die Gepflogenheiten im Zug nicht genau zu kennen. Neben ihr sitzt ein dicker junger Mann mit kurzen Haaren und freundlichem Bärchengrinsen. Wenig später kommt sein Freund und Kollege, mit dem er gemeinsam zur Computermesse will – so wie die meisten Fahrgäste an diesem Tag.

Der Freund ist Manager einer Computerfirma, der Dicke selbst Programmentwickler. Sie haben sich viel zu erzählen, aber keine nebeneinanderliegenden Sitzplätze. Sie sitzen hintereinander. Die Frau lehnt ihre Bitte ab, den Sitzplatz mit einem der Männer zu tauschen. Sie wird es bereuen. „Ich habe diesen Platz reserviert“, sagt sie bestimmt, ohne zu ahnen, was in den nächsten zwei Stunden auf sie zukommt. Nun reden die Freunde über die Sitzreihe hinweg miteinander. Und alle dürfen mithören.

„Wir haben da neulich ein Computerprogramm im Auftrag der Bundesregierung entwickelt, das die sozialen Netzwerke analysiert“, berichtet der Praktiker. „Also wenn die Regierung ein Gesetz macht, und viele Leute posten bei Facebook, das sei ein Scheißgesetz, dann geht bei denen die rote Lampe an.“ Die Frau schaut gelangweilt bis eingeschnappt.

Dann schweifen die Gespräche ins Private ab. Der Entwickler berichtet von seiner Freundin Katharina, die keine richtigen Hobbys hat, so wie er. Die ihn des Fremdgehens verdächtigt, obwohl er doch nur computerspielen wolle. Und seinen Hobbys frönen: „Ich interessiere mich für dieses ganze Zweite-Weltkriegs-Zeug.“

Die Frau starrt demonstrativ weg, hört aber jedes Wort. Als der Nachwuchshacker über seinen früh verstorbenen Vater und den Trekkingurlaub mit seinem Bruder redet, will sich die Frau wegsetzen. Das sagen zumindest ihre Augen. Aber in dem Moment kommt die erlösende Durchsage: Wir erreichen Hannover. Fast alle männlichen Fahrgäste steigen aus. Die Dame bleibt, fährt weiter. Sie sieht aus, als wäre ihr ein Stein vom Herzen gefallen.

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