© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Dichter des ewigen Heimwehs
Neue Standards für die Literaturwissenschaft: Jochen Missfeldts exzellente Biographie seines großen Kollegen Theodor Storm
Thomas Brandt

Zur Vorstellung seiner Storm-Biographie im „Roten Elefanten“, dem massigen wilhelminischen Oberlandesgerichts-Klotz in Schleswig, mußte sich Jochen Missfeldt die Frage gefallen lassen, ob es über das Leben des „Schimmelreiter“-Autors angesichts eines Bergs germanistischer Forschungsliteratur überhaupt noch etwas Neues zu berichten gebe. Und was konnte gerade von ihm, dem zum Schriftsteller „umgeschulten“ Berufssoldaten, der nie als Literaturhistoriker oder Storm-Spezialist hervorgetreten ist, anderes zu erwarten sein als eine romanhafte Kompilation des angehäuften Materials, das knapp zwei Dutzend Storm-Biographien einschließt?

Derartige Befürchtungen verfliegen nach der Lektüre weniger Seiten. Denn Missfeldt ist ein hinter keinem „Fachmann“ zurückstehender intimer Kenner des Lyrikers und Novellisten, vertraut mit allen Feinheiten der Storm-Forschung, hat auch den Gang zu den unveröffentlichten Hinterlassenschaften in Bibliotheken und Archiven nicht gescheut. Überdies gebührt ihm das Verdienst, erstmals die eigenartig spät, im Verlauf der letzten 25 Jahre, edierten Korrespondenzen des begnadeten Briefschreibers Storm mit seiner ersten Frau Constanze, mit Freunden, Kollegen und Verlegern verarbeitet zu haben. Herausgekommen ist daher nicht eine weitere, sondern die bisher beste, weil auf dem breitesten Quellenfundament ruhende, wissenschaftlich höchsten Ansprüchen genügende Biographie Theodor Storms – pünktlich zum 125. Todestag des „poetischen Realisten“, dessen am 4. Juli 2013 zu gedenken ist.

Streng hält sich Missfeldt an die Chronologie, schreitet die bekannten Lebensstationen ab, von der behüteten Husumer Kindheit des Advokatensohnes zu der bereits auf literarischen Ruhm schielenden Studienzeit, über die biedermeierliche Anwaltsexistenz in der „grauen Stadt am Meer“, die vom dänischen König verfügte Ausweisung und die „Exiljahre“ im Justizdienst des ungeliebten preußischen Staates, hin zur dritten Husumer Periode als Landvogt und Amtsrichter nach 1864, endend beim vermeintlichen Altersidyll in der 1880 errichteten „Villa Storm“ an den „Eichendorffschen Wald- und Wiesegründen“ Hademarschens, nahe Rendsburg.

Dabei fließen Leben und Werk zusammen, werden Familien- und Kunstgeschehen eng verzahnt, unabdingbar bei einem Poeten, der seine Texte aus „unmittelbarem Erleben“ formte. Weil Missfeldt den Dichter aber weit über die Privatheit hinaus „in seinem Jahrhundert“ darstellen will, ist die Sozial-, die Alltags- und Mentalitätsgeschichte Deutschlands im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft omnipräsent. Penibel beschreibt er die materiellen Grundlagen von Storms privilegierter bürgerlicher Existenz in einem Umfeld, das stets, in Husum wie in Potsdam und Heiligenstadt, von der Armut der Massen geprägt war.

Die Herkunft aus Husums Patriziat bestimmte das aristokratische Bewußtsein des bildungsstolzen Juristen ebenso wie das „stockkonservative“ Frauenbild des zweimal verheirateten Vaters von acht Kindern. Pekuniäre Zwänge diktierten Rhythmus und Form literarischer Produktion: dem „Workaholic“ blieb keine Zeit, um dicke Romane zu verfassen, er mußte sich daher auf rasch Honorare abwerfende Novellen konzentrieren, mit denen er Westermanns Monatshefte oder die Deutsche Rundschau belieferte und die als schmale Buchausgaben noch einmal Geld in die Haushaltskasse spülten.

Trotzdem gewährte der unablässige „Kampf ums Dasein“ selten eine Atempause. Am Schicksal der Kinder Storms, dem Missfeldt sehr viel Raum gibt, zeichnet sich die permanente Bedrohung bürgerlicher Sekurität ab. Wie von selbst ergeben sich Parallelen zum „Untergang einer Familie“, die der Storm-Bewunderer Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ erzählt. Storms Ältester erleidet einen jämmerlichen Säufertod, Sohn Karl, ebenfalls Syphilitiker und Trinker, strandet als verkrachter Musiklehrer im oldenburgischen Varel. Ernst, Alkoholiker, Spieler, Schürzenjäger, kriegt mit Mühe die Kurve und stirbt als Anwalt in Husum. Zwei Töchter ehelichen Schubiake, zwei ihrer Schwestern verschwinden in ehrsamer Bedeutungslosigkeit, nur die unverheiratete Gertrud, die jüngste, macht sich als Biographin ihres Vaters einen Namen. Storm beglich wieder und wieder die Schulden der verbummelten Söhne, predigte ihnen brieflich unablässig Ordnung und Enthaltsamkeit, schickte ihnen die Töchter als lebende Korsettstangen, bot alle Kräfte auf, damit das „Familienschiff“ nicht leckschlug. Unterm Strich bestätigte sich jedoch die Lebensphilosophie des „Vergänglichkeitspredigers“ mit dem „Resignationsstil“: „Alles umsonst“.

Die Politik war ihm dagegen kein Heilmittel. Mit dem „demokratischen Humanisten“, den die Storm-Forschung dem bundesdeutschen Zeitgeist gern andient, ist es Missfeldt zufolge nicht weit her gewesen. Religion und Kirche waren für den „friesischen Heiden“ ohnehin rote Tücher. Dem Leben Richtung und Halt gab ihm allein die Kunst.

Im Zentrum von Storms Kunst stehen Beschwörungen zeitloser Zustände, Träume von Unschuld und Unvergänglichkeit: Liebe, Kindheit, Heimat. Chiffren für das unstillbare „Heimatsgefühl“ sind Husum und die nordfriesische Küstenlandschaft. Aber Heimweh war ihm ein „ewiges brennendes Seelenfeuer“, es brannte nicht nur in der Fremde, sondern auch zu Hause am Deich. Warum zeitigte diese „tief romantische“, „endlose Suche nach der blauen Blume“ auf der Flucht aus dem „stahlharten Gehäuse“ (Max Weber) heraufziehender kapitalistischer Entfremdung bei Theodor Storm so wenig Kitsch und so viel „unvergängliche Poesie“, die heute noch Leser in den Bann schlägt?

Sicher garantiert diese Qualität seine unverminderte Modernität, aber Missfeldt, Angeliter des Jahrgangs 1941 und damit noch organisch in den schleswig-holsteinischen Storm-Kosmos hineingewachsen, setzt sie selbstverständlich voraus, statt sie zu erklären. Darin liegt vielleicht der einzige Einwand gegen seine überragende Arbeit.

Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert, Carl Hanser Verlag, München 2013, gebunden, 495 Seiten, Abbildun-gen, 27,90 Euro

Foto: Zeitgenössisches Porträt Theodor Storms (1817–1888): Im Zentrum von Storms Kunst stehen Beschwörungen zeitloser Zustände, Träume von Unschuld und Unvergänglichkeit: Liebe, Kindheit, Heimat.

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