© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Der Staat muß draußen bleiben
Geschichte der Religion in Deutschland seit 1949: Thomas Großbölting über den schwierigen Spagat zwischen Tradition und Marketing
Gernot Facius

Der Satz ist hammerhart: Ein „christliches Deutschland“ gibt es nicht mehr. Es ist ja wahr: Die stützende Funktion des Glaubensgerüstes von Katholiken und Protestanten ist schwächer geworden, und so wurden auch die auf diesem Gerüst ruhenden gesellschaftlich akzeptierten Sitten- und Moralvorstellungen schwächer. Praktizierte Religion befindet sich auf dem Rückzug. Die Erbhöfe religiöser Selbstverständlichkeit sind verschwunden, fast eine Ursituation christlicher Mission.

Der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting, katholisch sozialisiert, geht in seinem Buch mit dem etwas irritierenden Titel „Der verlorene Himmel“ den Gründen für den Traditionsabbruch nach, ohne sich gleich den Propheten des Untergangs anzuschließen. Was er bei seiner Tiefenbohrung zutage fördert, relativiert manche steile These vom Tod des Christentums. An ihr Ende gekommen, schreibt Großbölting, seien lediglich die spezifischen Sozialformen, die vor allem der Katholizismus, in Teilen auch der Protestantismus ausgebildet haben: die Kirche als Organisation, die auf zugeschriebener und nicht freiwilliger Mitgliedschaft beruht und für ihre Gläubigen Rollen vorgibt, die diese weitgehend unabhängig vom eigenen Willen zu erfüllen haben. Anders gesagt: Das „Entscheidungschristentum“ gewinnt an Bedeutung.

Die beiden Großkirchen boten stets unterschiedlichen Frömmigkeitsformen eine Heimat. Angesichts der fortschreitenden Individualisierung ist, so sieht es der Historiker, für beide die Vermittlung zwischen Einheit und Vielfalt erst recht eine der wichtigsten Zukunftsaufgabe, wenn auch ein Spagat: Man wird diejenigen nicht verschrecken dürfen, die ihre „Tradition“ leben wollen, und man wird den spirituell Suchenden Freiräume eröffnen und zugleich versuchen müssen, attraktiv für Randsiedler zu bleiben.

Wer sich an der Kirchenpraxis des 20. Jahrhunderts orientiert, wird das als Quadratur des Kreises empfinden, wird Vielfalt mit Profilverlust gleichsetzen. Manche Entwicklung geht in diese Richtung: Wo Repräsentanten der Kirche auf jeden Zug des Zeitgeistes aufspringen und das eigene Kursbuch vergessen, also darauf verzichten, die Glaubenssache ins öffentliche Gespräch zu bringen, wird Pluralisierung zu einem innerkirchlichen Konfliktthema.

Im Katholizismus, noch mehr im Protestantismus ist das schon zu beobachten; Professor Großbölting deutet das an, vorsichtig und knapp. Ihm geht es freilich um etwas anderes. Die Pluralisisierung des religiösen Feldes hat aus seiner Sicht Konsequenzen auch für die Politik. Er hält es für eine Illusion zu glauben, daß in einer Gesellschaft, in der das Christentum eine von vielen Glaubensoptionen ist, der Staat sich in Religionsfragen „neutral“ verhalten könne, „nehmen religiöse Konflikte doch zu und werden vielfältiger“. Die Unbeholfenheit, mit der in der Beschneidungsdebatte agiert worden sei, deute darauf hin, wie wenig die Gesellschaft darauf vorbereitet sei.

Großbölting bringt bewußt das Stichwort „Religionspolitik“ in die Debatte, sie bekommt damit eine neue Qualität. Ein Deutscher Juristentag hat sich schon vor Jahren dieser Problematik angenommen, der Münsteraner Historiker spitzt dort erhobene Forderungen weiter zu: Ein „Weiter so“ mit Blick auf die privilegierte Stellung der Kirchen verbiete sich dann, wenn diese Ausrichtung andere Religionsgemeinschaften wie auch die Belange der Nichtreligiösen außen vor lasse. Staatliche Religionspolitik werde sich mehr als bislang darüber qualifizieren müssen, die einzelnen Religionsgemeinschaften, etwa den Islam, gleich und damit gerecht zu behandeln.

Grundsätzlich, so der Autor, konserviere die deutsche Religionspolitik den Einfluß der christlichen Kirchen, stelle diese etwa gegenüber dem Islam besser und vergesse, daß das Christentum zwar das Bekenntnis vieler Bürger sei, „nicht aber die deutsche Staatsreligion“.Großbölting begibt sich mit seinem Plädoyer für eine Aufhebung der „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirchen – indem Religiösen unterschiedlicher Bekenntnisse gleiche Möglichkeiten eingeräumt werden und auch die wachsende Gruppe der Nichtreligiösen Beachtung findet – auf politisch schwieriges Terrain. Aktuell haben weder Staat noch Kirchen ein gesteigertes Interesse an einer Lockerung der staatskirchenrechtlichen Beziehungen. Trotz Drängens islamischer Organisationen auf Gleichbehandlung. Großbölting hat natürlich recht: Das juristische Instrument der Körperschaft öffentlichen Rechts, mit dem die Politik religiöse oder weltanschauliche Institutionen erfolgreich in das öffentliche Leben integrierte, baut für Moslems Hürden auf, die für diese theologisch und organisatorisch kaum zu überwinden sind. Eine „Verkirchlichung“ ist für den Islam ausgeschlossen.

Wie könnte deshalb eine für alle akzeptable Gleichberechtigung aussehen? Durch eine Weiterentwicklung des Systems der „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche zugunsten der Moslems? Eine schlüssige Antwort hat Großbölting keine. Sie muß von der Politik kommen. Doch die agiert ziemlich hilflos.

Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, gebunden, 320 Seiten, 29,99 Euro

Foto: Leere Bänke in Dresdner Thomaskirche: Christentum nur noch eine von vielen Glaubensoptionen

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