© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Entmündigt mit der Spieltheorie
Der Computer entscheidet: Frank Schirrmacher über den Informationskapitalismus, der mit nüchterner Logik von Algorithmen die Regeln der Marktwirtschaft pervertiert
Karlheinz Weissmann

Seit 2004 hat Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ, vier Bücher geschrieben. Es handelte sich immer um Zeitdiagnosen, wobei die letzten Publikationen – „Minimum“, „Payback“ und der jetzt erschienene Band „Ego“ – alle Aspekte dessen behandeln, was man Informationskapitalismus nennt. Gemeint ist damit eine Variante der Marktwirtschaft, die sich nach Meinung Schirrmachers technisch auf die Entwicklung von Computersystemen stützt, aber ideologisch auf eine Kombination aus „neoklassischer“ und „neoliberaler“ Ökonomie, Soziobiologie, Spiel- und Rational-Choice-Theorie.

Unbestreitbar gehört zu den Stärken von Schirrmachers neuem Buch der Hinweis auf die Konvergenz dieser Ansätze in einem Punkt: der Behauptung, daß der Mensch von Natur Egoist sei und jeder Ansatz scheitern muß, der das bestreitet oder zu korrigieren sucht. An einer Stelle heißt es explizit: „Im Kalten Krieg wurde die Formel geboren, daß jeder eigennützig handelt und den anderen reinlegen will. Wer das akzeptierte, handelte vernünftig.“

Schirrmacher weist darauf hin, daß unter dem Eindruck des Konflikts der Supermächte die USA darangegangen seien, nicht nur für ihre Militärtechnologie auf die Naturwissenschaften zurückzugreifen, sondern auch deren Denkmodelle für die eigene Strategie zu übernehmen. Das heißt, man prognostizierte das Verhalten des Feindes vor dem Hintergrund bestimmter Annahmen über die Gesetze des menschlichen Handelns, die man mit Naturgesetzen verwechselte.

Aufgrund der Macht des „militärisch-industriellen Komplexes“ – so Schirrmacher wörtlich – hätten sich entsprechende Theorien seit den fünfziger Jahren in allen möglichen Bereichen durchgesetzt, weil „die Revision des Menschenbildes (…) zeitgleich in allen Disziplinen“ stattfand. Besondere Aufmerksamkeit fanden sie in der Wirtschaftslehre, die seit jeher dazu neigte, mit der Annahme eines homo oeconomicus zu arbeiten, vereinfacht gesprochen: der Vorstellung von einem Menschen, der allein an Nutzenmaximierung interessiert ist und sich als Marktteilnehmer entsprechend verhält, das heißt gemäß Rationalitätskriterien, von denen ein Teil der Ökonomen annimmt, daß sie vorbildlich für jeden Lebensbereich sind.

Allerdings kam man nie umhin zuzugeben, daß es sich bei dieser Figur nur um eine „Denkfigur“ handelt, daß also konkrete Menschen im Fall konkreter Entscheidungen dazu neigen, sich eben nicht so zu verhalten, wie es vom homo oeconomicus erwartet werden konnte. Eine Schwäche, die Maschinen nicht kennen, weil sie keine Gefühle wie Liebe, Haß, Schuld, Treue kennen, die zu irrationalen Entscheidungen führen. Deshalb hat auch kein Ansatz im Überbau – etwa die soziobiologische These vom „egoistischen Gen“ – die Menschen tatsächlich von der „unausweichlichen Logik des Eigennutzes“ überzeugen können.

Erst die Möglichkeiten der Computertechnologie führten zur entscheidenden Veränderung, eben weil sie ein „Mensch-Maschine-Mischwesen“ erschuf, dessen Evolution zu immer weniger Mensch und zu immer mehr Maschine führen muß. Diese Entwicklung konnte so erfolgreich durchgesetzt werden, weil mit dem Zusammenbruch des Kommunismus der Kapitalismus alternativlos erschien, die bessere Wahl, weil Wohlstand und Freiheit verbürgend.

Tatsächlich aber wurde nach dem Ende des alten „ein neuer Kalter Krieg im Herzen unserer Gesellschaft eröffnet“, folgt man Schirrmacher, und so wie am Beginn des Ost-West-Konflikts der Einzug der Physiker in die militärische Forschung begann, folgen sie jetzt den Angeboten der Wall Street und entwerfen für die New Economy Systeme, die im globalen Maßstab in ungeheurem Tempo operieren, dabei ausgerichtet auf zwei Hauptziele: die Virtualisierung der Wirtschaft und die Verfeinerung des social engineering bis zu jenem Punkt, an dem der Mensch nicht mehr von außen, sondern von innen beeinflußt wird, weil die Maschine, die ein Teil von ihm wurde, vor ihm weiß, was er will.

Das ist im Kern das, was Schirrmacher „die Falle“ nennt, die uns allen gestellt wird, uns, den Bürgern, Konsumenten, Usern, und die meisten würden diesem Teil der Diagnose kaum widersprechen. Die Schwäche seiner Argumentation liegt auch nicht in der Beschreibung des Ist-Zustands und nicht einmal in den etwas verwegen wirkenden Kombinationen, die das Buch in den Bereich des Verschwörungstheoretischen rücken. Die Schwäche vielmehr liegt darin, daß Schirrmacher sich nicht entscheiden kann, ob wir einem Kollaps entgegengehen – „Die Krise ist nur ein Symptom. Sie zeigt die Instabilität nicht nur von Märkten, sondern von Gesellschaften, indem Märkte wie Gesellschaften als homo oeconomicus organisiert werden.“ – oder ob „Big Data“ sich zwangsläufig in „Big Brother“ verwandelt und aus dessen Überwachung kein Entkommen mehr ist.

Die Schwäche liegt zum zweiten in der Undeutlichkeit von Schirrmachers Gegenbild. Immerhin wird in „Ego“ deutlicher als in den früheren Texten, daß er sich als Testamentsvollstrecker der Neuen Linken begreift. An einer Stelle des Buches werden die Achtundsechziger ausdrücklich als einzig nennenswerter Widerstandsversuch gegen die übermächtige Tendenz benannt, aber was man sonst an Hinweisen auf die Welt jenseits des Schreckens der Gegenwart findet, liest sich wie die Andeutungen, die Marx und Engels über das Idyll des vorkapitalistischen England machten.

Die Behauptung jedenfalls, es habe bis in die achtziger Jahre eine Möglichkeit unbeschädigter Identität und nicht-entfremdeter Arbeit gegeben, ist doch mehr als fragwürdig, so fragwürdig wie die Vorstellung, daß erst mit der Mutation des demokratischen Nationalstaats zum „Markt-Informations-Staat“ der Bruch des Souveränitätsprinzips stattgefunden habe. Tatsächlich könnte eine Analyse, die eine politische und nicht nur kulturkritische wäre, darauf hinweisen, daß die Prozesse, die Schirrmacher beschreibt, im wesentlichen nichts anderes sind als die Folgen der Überschreitung einer „absoluten Kulturschwelle“ (Arnold Gehlen), die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann, mit dem alten Europa auch die überlieferte Ordnung aller anderen Zivilisationen vernichtete und zum Aufstieg von neuen Herrschaftsformen führte, die sich den klassischen Begriffen entziehen und die Menschen – entgegen einer Verheißung, der der „Humanist“ Schirrmacher nach wie vor anhängt – nicht frei und gleich machten, sondern in Isolation und Kollektivismus führten.

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens. Karl Blessing Verlag, München 2013, gebunden, 352 Seiten, 19,99 Euro

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