© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Die Sehnsucht nach der Unschuld
Heiterkeit als Widerpart des Genusses: Zum 250. Geburtstag des großen Schriftstellers Jean Paul
Günter Zehm

Er war der Liebling der Frauen, der Musikanten und des schwarzen Biers. Außerdem war er der Inbegriff des modernen „freien Schriftstellers“, seine erste Verkörperung im deutschen Geistesleben geradezu, nie von einer Fürsten- oder Patrizierrente abgesichert, nirgendwo fest in Lohn und Brot, einzig von den Erträgen seiner Bücher lebend, von denen zeitweise aber sehr gut. Auch ideologisch ließ er sich nirgendwo unterbringen. Er war weder Pfaffe noch Aufklärer, weder Klassiker noch Romantiker, weder Realist noch Idealist. Er war Jean Paul, und niemand anders wollte er sein.

Anspruchsvolle Frauen liebten ihn gerade deshalb. Sie wollten nicht von ihm versorgt werden, sondern wollten ihn ihrerseits versorgen, in jeder Bedeutung des Wortes. Charlotte von Kalb lief mit fliegenden Fahnen von Schiller zu Jean Paul über. Preußens Königin Luise empfing ihn in Berlin zum persönlichen Gespräch, ihre Schwester Charlotte in Hildburghausen machte ihn zum Zentralgestirn ihres „Kleinen Musenhofs“. Karoline von Feuchtersleben umschwirrte ihn so lange, bis ihm schließlich nichts weiter übrigblieb, als sich mit ihr zu verloben, trotz der horrenden Standesunterschiede.

Kurze Zeit später entlobte er sich freilich wieder und dachte sich nun „haltbare Strategien der Ehevermeidung“ aus, die bis ins Jahr 1800 wirksam blieben – dann heiratete er in Berlin Fräulein Karoline Mayer, mit der er bis an sein Lebensende zusammenblieb. Er hatte mit ihr zwei Kinder, die er sehr liebte, aber die Romane, die er fortan schrieb, „Titan“ oder „Flegeljahre“ (von heutigen Literaturexperten zu Recht besonders hoch geschätzt) waren lange nicht mehr so erfolgreich wie vorher etwa der „Hesperus“, der „Siebenkäs“ oder „Das Leben des Quintus Fixlein“.

Es fehlte den „Flegeljahren“ offenbar jene ungeheure Empathie, mit der Jean Paul seine Frauenfiguren etwa im „Siebenkäs“ gestaltet hatte. Nie zuvor waren in der deutschen Literatur weibliche Charaktere mit einer solchen psychologischen Tiefe ausgestattet worden wie in den ersten Jean-Paul-Romanen, bei gleichzeitiger heimlicher Dauerironie der Beschreibung, „vergnüglich-mysogyner Stichelei“ (Albrecht Decke-Cornill), die direkt an Bert Brecht denken läßt. Die Frauen gingen begeistert darauf ein.

Ganz ähnlich verhält es sich mit den Beziehungen zwischen dem Dichter und der Musik. Jean Pauls Werke sind – im Gegensatz zu vielen Gedichten Goethes, Schillers und der Romantiker – nicht wirklich sangbar; dazu sind sie viel zu selbstbezüglich, und dauernd mischt sich die ironische Logik ins biedere Gefühl ein und umgekehrt. Doch just diese Gebrochenheit fasziniert die Komponisten, hat sie von Anfang an fasziniert und fasziniert sie noch heute. Jean Paul ist, man will es kaum glauben, der am meisten vertonte Schriftsteller in Deutschland.

Von Aloys Schmitt, der 1824 den „Titan“ in ein „Großes Tongemälde für das Piano-Forte zu vier Händen“ verwandelte, reicht die Strecke bis in unsere Tage, wo Georg Friedrich Haas 2009 sein „Blumenstück nach Texten aus dem Siebenkäs von Jean Paul“ für 32stimmigen Chor, Baßtuba und Streichquintett herausbrachte. Zu den Jean-Paul-Vertonern gehören Heroen wie Robert Schumann oder Gustav Mahler, Operettenfürsten wie Eduard Künneke und aktuelle Pophelden wie Johannes Schöllhorn (red and blue für sechs Schlagzeuger, nach Texten aus Jean Pauls „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“).

Was schließlich das schwarze Kulmbacher Bier betrifft, für das Jean Paul ebenfalls steht, so wäre anzumerken, daß er damit dem Kleine-Leute-Getränk seiner harten Jugendjahre treu geblieben ist – und es dadurch berühmt machte. Auch in seiner Glanzzeit ab 1796 in Weimar und Berlin, wo bei Festen nur Wein getrunken wurde, verlangte er stets zunächst einmal ein Kulmbacher Bier und zeigte sich enttäuscht, wenn es nicht zur Verfügung stand.

Jean Paul schrieb nicht, wie die meisten „freien Schriftsteller“, zu Hause, sondern ging jeden Morgen „zur Arbeit“ in die „Rollwenzelei“, einem Gasthaus in Bayreuth an der Straße nach Weiden, wo seine „Dichterstube“ noch heute mit der alten Garnitur gezeigt wird: der gefüllte Krug mit Kulmbacher Schwarzbier neben der frisch gespitzten Gänsefeder. Hier entstanden die letzten Romane, die „Flegeljahre“. „Dr. Katzenbergers Badereise“, „Der Komet“ und die Fragment gebliebene „Selina“ sowie Erzählungen (unter dem Sammeltitel „Die Beichte des Teufels“) und das wundersame Kindererziehungs-brevier „Levana“.

Das einstmals stürmische Interesse des Publikums für Jean Pauls Hervorbringungen nahm allmählich ab. Die nachfolgende Generation wollte es direkter, kompakter, mehr auf die Fabel kapriziert als auf die Nebentöne. August Wilhelm Schlegel nannte Jean Pauls Romane etwas herablassend „Selbstgespräche, an denen er den Leser teilnehmen läßt“. Auch störten ihn und andere der angeblich „allzu intensive Humor“ über dem Ganzen; man wisse nie genau, ob es der Autor nun ernst meine oder nicht.

Indes, faktisch sämtliche Romantiker inklusive E. T. A. Hoffmann haben Anleihen bei Jean Paul gemacht, wie auch die späteren Realisten, von Wilhelm Raabe bis Albert Vigoleis Thelen. Ob sie es leugnen oder ihm zustimmen, ob sie ihn gelesen haben oder nicht: alle deutsch schreibenden Autoren sind sich im Grunde darüber einig, daß ein gutes Stück Jean Paul in jeder gelungenen Literatur stecken muß. Thomas Mann drückte es so aus: „Er übt eine glückliche Funktion aus, ein Besinnliches, Gemüthaftes, Humoristisch-Weltüberlegenes, worin doch – ganz zuletzt – wir Deutschen uns immer noch finden und verstehen.“

Jean Paul selbst nannte es (in seiner „Levana“) „die Heiterkeit“, die er gegen das bloße Genießenwollen des Lebens in Stellung brachte. „Jeder Genuß“ heißt es dort, „und wäre es der feine eines Kunstwerks, gibt dem Menschen eine selbstische Gebärde und entzieht ihm Teilnahme. Daher ist er nur Bedingung eines Bedürfnisses, nicht der Tugend. Hingegen Heiterkeit – der Gegensatz des Verdrusses und Trübsinns – ist zugleich Boden und Blume der Tugend. Auch Tiere können genießen, aber nur Menschen können heiter sein.“

Die Entdeckung der Heiterkeit als Widerpart des Genusses war der große Wurf im Werk des Jean Paul, der in allen seinen Einzelwerken wiederkehrt. Man mag der Meinung zuneigen, daß auch dem Genuß, dem Lebensgenuß, eine höhere Aura als das „bloß Tierische“ gebührt, daß ein Leben ohne Phasen reinen Genießens gar nicht vorstellbar ist; sogar die Bibel (Jesus Sirach, 14,14) empfiehlt ja, Gelegenheiten zu „erlaubtem Genuß“ nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen. Am Karat der Jean Paulschen Grunderzählung ändert das jedoch nichts.

Ja, es stimmt, es gibt Formen des Genießens, die sich jedes behagliche Schmatzen versagen, die sich in einer hochbewußten, emphatischen Wahrnehmung des Daseins erfüllen und die damit selbst schon von Heiterkeit zeugen. Doch auch sie sind letztlich ausschließlich auf Verbrauch des Daseins aus und unterscheiden sich eben genau dadurch negativ von der wahren Heiterkeit, die laut Jean Paul grundsätzlich nicht zu befriedigen ist. Nur die Heiterkeit ist davor gefeit, jemals stockig oder sauer zu werden, nur sie kennt kein Ende, sondern immer nur Neuanfang, nur in ihr kann sich der Mensch ganz weggeben, ohne dabei ins Nichts zu fallen.

Daß der heute allgemein übliche Hedonismus, also die Philosophie der perfekten Genußbefriedigung, das unerfüllbare Streben à la Jean Paul ausblendet, macht seine Schwäche aus. Jean Paul wird gebraucht. Einzig er wußte, daß es kein goldenes oder unschuldiges Zeitalter oder Stadium geben kann, sondern bloß die unentwegte, ewige Sehnsucht danach. „Bloß die Vergangenheit glänzt nach, wie die Schiffe zuweilen auf dem Meere hinter sich eine leuchtende Spur ziehen.“

 

Jean Paul

Geboren am 21. März 1763 als Pastorensohn Johann Paul Friedrich Richter im oberfränkischen Wunsiedel und früh verwaist, wurde Jean Paul, wie er sich später nannte, mit dem Roman „Hesperus oder 45 Hundposttage“ (1795) berühmt. 1804 zog er nach Bayreuth, wo er bis zu seinem Tod am 14. November 1825 wohnen blieb. Er führte ein bewußt zurückgezogenes Leben, unterbrochen lediglich von kurzen Reisen nach Bamberg, wo er E. T. A. Hoffmann besuchte, und nach Heidelberg, wo ihm 1817 auf Vorschlag Hegels der Ehrendoktor der Universität verliehen wurde. Dort gab es auch die einzigen von ihm überlieferten politischen (gemäßigt vaterländischen) Stellungnahmen, angedruckt in Cottas Morgenblatt. Die Studenten reagierten begeistert. Es gab einen Fackelzug, und sie ernannten ihn zum „Lieblingsdichter der Deutschen“.

Foto: „Siebenkäs“-Stahlstich von Carl Mayer (1802–1872) nach Zeichnung von Alexander Simon: Erster Eheroman der Literaturgeschichte

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen