© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Rückzug jetzt
Nahostkonflikt: Mit einem Abzug aus dem Westjordanland kann Israel nur gewinnen
Martin van Creveld

Während sich in Israel eine neue Regierung gebildet hat, lohnt sich ein Blick in die Zukunft. Das Fazit der geschichtlichen Entwicklung seit 1914 lautet eindeutig: eine der großen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Bezüglich Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung, Bildung, Kultur und natürlich militärischer Schlagkraft steht Israel weitaus besser da als fast alle anderen neu entstandenen Staaten. Natürlich hat es Probleme, aber dies sind die eines entwickelten, nicht die eines Entwicklungslandes.

Das dringendste Problem ist die Besetzung des Westjordanlandes. Im Zuge des Sechstagekrieges im Juni 1967 eroberte Israel Gebiete, die dreimal so groß waren wie die bisherige Fläche des Landes. Seither gingen das Sinaigebirge und der Gazastreifen an die ehemaligen Besitzer zurück. Die Golanhöhen dagegen, die zuvor zu Syrien gehörten, stehen nach wie vor unter israelischer Herrschaft. An ihrem Besitz festzuhalten, bereitet Israel keine größeren militärischen Probleme, zumal derzeit sowieso keine syrische Regierung als Verhandlungspartner zur Verfügung stünde.

Ganz anders verhält es sich mit dem Westjordanland. Israel liegt aus unterschiedlichen Gründen viel daran, dieses Gebiet zu halten. Zum Teil sind diese Gründe religiöser und historischer Natur. Schließlich stammt das jüdische Volk ursprünglich nicht aus Tel Aviv und Haifa, sondern aus Hebron und Jerusalem. Daneben spielen aber auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle – in den Bergen von Samaria befinden sich zahlreiche Grundwasserleiter, die für die Wasserversorgung wichtig sind. Und schließlich genügt ein Blick auf die Karte, um sich die prekäre militärische Lage zu vergegenwärtigen, in der Israel sich vor 1967 befand. Zum einen ist die Entfernung vom Westjordanland zum Mittelmeer so gering, daß eine Panzerbrigade Israel innerhalb einer Stunde in zwei Hälften teilen könnte. Zum anderen ist die höhere Lage des Westjordanlandes mit Blick über die Ebenen von strategischer Bedeutung.

Dennoch ist es an der Zeit, die Frage erneut aufzuwerfen. Der Verfasser teilt die Meinung vieler hochrangiger israelischer Generäle, daß ein militärisch starkes Israel sich auch ohne das Westjordanland verteidigen kann. Seine Präsenz in dieser Region wird ihm auch nicht bei der Abwehr iranischer Raketen helfen, die möglicherweise eines Tages gegen Israel gezündet werden könnten.

Als einer der weltweit wichtigsten Hersteller und Exporteure von Entsalzungsanlagen ist Israel nicht auf das Grundwasser aus Samaria angewiesen, wenngleich der Verzicht darauf durchaus eine wirtschaftliche Belastung bedeuten würde. Was die religiöse und historische Bedeutung angeht, sollte sie weder unterschätzt noch zum Maß aller Dinge erhoben werden – letztlich muß die Notwendigkeit, Israels zukünftige Existenz zu sichern, bei der Entscheidung die ausschlaggebende Rolle spielen.

Der einstige Stabschef, Verteidigungs- und Außenminister Moshe Dayan bezeichnete die besetzten Gebiete nicht zu Unrecht als „Buckel“ auf dem Rücken Israels. Außenpolitisch gesehen ist die Besetzung zwar nicht der einzige, aber doch einer der Hauptgründe für Israels zunehmende internationale Isolation. Zudem vergiftet sie alle Versuche, die Beziehungen zu arabischen und muslimischen Staaten zu verbessern. Innenpolitisch erfordert sie einen riesigen Sicherheitsapparat, der stark in die Privatsphäre eingreift und nur sehr begrenzt einer öffentlichen Kontrolle untersteht, wie die Affäre um den Selbstmord des Mossad-Agenten Ben Zygier zeigte. Er neigt zudem dazu, die zu korrumpieren, die in seinen Diensten stehen. Wie allzu viele Israelis am eigenen Leib erfahren mußten, schlägt die Knute, mit der sie die Palästinenser in Schach halten, zuweilen sie selber.

Vor allem hat Israel ein Demographieproblem. Eineinhalb Millionen der knapp acht Millionen zählenden Bevölkerung sind Araber. Einschließlich der Bevölkerung des Westjordanlands leben somit bis zu vier Millionen Araber unter israelischer Herrschaft, darunter bis zu zweieinhalb Millionen sogenannte Palästinenser, die keine israelische Staatsbürgerschaft, somit auch kein Wahlrecht und keine parlamentarische Repräsentation haben. Ein Zustand, der sich schlecht mit Israels Anspruch verträgt, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein. Angesichts einer Geburtenrate der arabischen Bevölkerung, die wenngleich ebenfalls sinkend doch weit über der jüdischen liegt, ist auch der Anspruch, ein jüdischer Staat zu sein, keineswegs dauerhaft gesichert.

Die israelische Linke hoffte lange Zeit darauf, mit den Palästinensern eine friedliche Lösung auszuhandeln, die Israel den Abzug aus allen oder zumindest den meisten besetzten Gebieten gestattet hätte. Diese Leute bellen den Mond an. Jeder, der jemals mit palästinensischen Diplomaten gesprochen hat, weiß, daß sie ihren Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer ebensowenig aufgeben werden, wie die Forderung auf das Recht ihres Volkes, nicht nur ins Westjordanland und in den Gazastreifen, sondern auch nach Tel Aviv und Haifa zurückzukehren. Da die Durchsetzung dieser Forderung mit der Vernichtung Israels als jüdischer Staat gleichbedeutend wäre, wird keine Regierung sie jemals erfüllen – auch Präsident Obama wird bei seinem Israelbesuch keine Quadratur des Kreises gelingen, und wenn er noch soviel Druck ausübt.

Die Zeit arbeitet gegen Israel. Was ist zu tun? Israel sollte eine Mauer bauen, die so hoch ist, daß nicht einmal Vögel sie überwinden können. Die Mauer sollte mehr oder weniger entlang der ehemaligen Grenze verlaufen und möglichst viele Palästinenser aussperren. Dann sollte Israel sich aus dem Westjordanland zurückziehen – ohne Verhandlung und Friedensvertrag. Die Siedler, die unter diesen Bedingungen umziehen möchten – wahrscheinlich die Mehrheit –, bekommen staatliche Unterstützung. Wer bleiben will, ist auf sich gestellt. Der Gazastreifen mag hier als Vorbild dienen.

Aus Sicht seiner Einwohner bringt das Leben in einer vom israelischen Staatsgebiet umgebenen und in vieler Hinsicht von Israel abhängigen palästinensischen Exklave einige Nachteile mit sich. Dennoch ist es einer feindlichen Besatzung mit ihren täglichen Ärgernissen und Erniedrigungen allemal vorzuziehen. Aus israelischer Sicht hat der Rückzug aus dem Gebiet so gut wie allen Formen von Terrorismus ein Ende bereitet. Dank Operation Wolkensäule – die schon Jahre zuvor hätte durchgeführt werden sollen – haben mittlerweile die Raketenangriffe aus Gaza aufgehört. Zwar besteht weiterhin eine Feindschaft, die jederzeit aufbrechen kann. Doch von der Beruhigung der Lage profitieren beide Seiten.

Israel ist wie ein Mann mit einem von Wundbrand befallenen Bein. Er wartet auf ein Wunder, mit dem sich sein Bein retten läßt, begehrt immer wieder gegen sein Schicksal auf und verfällt dann wieder in düstere Verzweiflung. Doch die Zeit läuft davon. Entweder man bindet das kranke Bein mit einem Tourniquet ab und amputiert es, oder der Patient stirbt. Die Entscheidung liegt allein bei ihm.

 

Prof. Dr. Martin van Creveld ist Professor emeritus der Hebräischen Universität Jerusalem und Verfasser zahlreicher Werke über Militärgeschichte und den Nahen Osten

Foto: Alltag im Westjordanland: Israelische Soldaten schützen Siedler

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