© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Viel Lärm um wenig Neues
Ungarn: Die umstrittene Novelle des Grundgesetzes folgt weitgehend den Vorgaben des Verfassungsgerichts
Reinhard Liesing

Am 1. Januar 2012 war das neue Grundgesetz, beschlossen in der Nationalversammlung von mehr als zwei Dritteln der Parlamentarier, in Kraft getreten. Schon vor und während der damaligen Ausarbeitung der neuen ungarischen Verfassung kam es zu massiven, ideologisch aufgeladenen Protesten im In- und Ausland. Doch kaum einer der Wortführer hatte den Verfassungstext gelesen. Aber alle urteilten, es handele sich um ein undemokratisches Machwerk des Regierungschefs Viktor Orbán. Der verstoße damit nicht nur gegen den europäischen Geist, sondern wolle die Demokratie im Lande abschaffen.

Dasselbe spielt sich gegenwärtig wieder ab, da das ungarische Parlament wiederum mit Zweidrittelmehrheit einige Bestimmungen des Grundgesetzes novellierte. Novellieren mußte, weil das ungarische Verfassungsgericht Ende Dezember 2012 ähnlich lautende Regelungen in den Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes für formell verfassungswidrig erklärt hatte.

Zum Chor derer, die wegen der Grundgesetzänderung nach Sanktionen gegen Ungarn rufen, gesellte sich auch EU-Justizkommissarin Viviane Reding. Die Christdemokratin tat kund, man werde den Vorgang „nicht nur prüfen, sondern auch handeln“, und drohte Budapest mit finanziellen Konsequenzen sowie der Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte.

Daß sie schon vor der angekündigten Prüfung durch die EU-Kommission offene Drohungen ausspricht, ist zumindest befremdlich. Wer sich mit der Novelle befaßt, stellt fest, daß es für Übergangsbestimmungen, die aus formaljuristischen Gründen annulliert worden waren, nur notwendig gewesen ist, sie mit weitgehend gleichlautenden Regelungen in die Verfassung zu integrieren.

So wurde die heutige Sozialistische Partei (MSZP) im Zusammenhang mit der Verurteilung der kommunistischen Ära und dem Ausschluß der Verjährung der während der Diktatur begangenen Verbrechen in den Übergangsbestimmungen als kommunistische Nachfolgepartei genannt. Diese Benennung wurde entfernt, will sagen: fand über die Novelle keinen Eingang ins ungarische Grundgesetz.

Daß in der Novelle der Familienbegriff auf jede lebenspartnerschaftliche Eltern-Kind-Beziehung ausgedehnt, davon aber eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ausgenommen wurden, ist legitim, entspricht aber nicht dem obwaltenden Zeitgeist in der EU. Ob die – gewiß legitime – künftige verfassungsrechtliche Bestimmung, wonach Hochschulabsolventen, die die staatliche Finanzierung ihrer Studiengebühren in Anspruch nehmen, verpflichtet sind, nach Studienabschluß eine bestimmte Zeit in Ungarn tätig zu sein, Bestand haben wird, ist dagegen eher fraglich. Sie verstößt gegen die Freizügigkeit und dürfte im zu erwartenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichshof fallen.

Dagegen ist die Regelung positiv zu bewerten, wonach die Ausübung der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit nicht darauf abzielen darf, die Menschenwürde anderer zu verletzen, insbesondere nicht „die ungarische Nation, ethnische, rassische oder religiöse Gemeinschaften“ zu beleidigen. Davon Betroffenen wird ein Klagerecht gewährt. Die geradezu unbeschränkte Meinungsäußerungsfreiheit hat in Ungarn nach 1990 zu der bemerkenswerten Situation geführt, daß die Leugnung des Holocaust, Kollektivbeleidigungen von Juden und Glaubensgemeinschaften sowie Antisemitismus und Zigeunerfeindlichkeit meist ohne Konsequenzen blieben.

Auch die Verfahrensregelung zur staatlichen Anerkennung als Kirche durch das Parlament war wegen eines verfassungsgerichtlichen Entscheids gegen das geltende Kirchengesetz notwendig. Die Neuerung, daß gegen die Ablehnung des Kirchenstatus Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann, ist positiv zu werten. Damit ist die dem Parlament zukommende Entscheidung, ob die Anerkennung von Kirchen den Standards an Glaubens- und Bekenntnisfreiheit genügt, letztlich wiederum dem Verfassungsgericht anheimgegeben.

Die Festschreibung, daß im Wahlkampf nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk (kostenfreie) Wahlwerbung senden darf, ist insofern kritikwürdig, als sie im Grundgesetz eigentlich nichts zu suchen hat, sondern sich eher für eine Wahlordnung eignet.

Ähnliches gilt für Vorschriften zur Strafbarkeit des „Lebens auf der Straße“: Kommunen können demnach „zum Schutz der öffentlichen Ordnung“ den „lebensführungsartigen Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen bezüglich eines bestimmten Teils der öffentlichen Fläche für rechtswidrig erklären“. Daß sich derlei in einer Verfassung findet, dürfte im Weltmaßstab singulär sein.

Die Novelle setzt Verfassungsgerichts-entscheidungen außer Kraft, welche vor Inkrafttreten des Grundgesetzes gefällt wurden, tastet aber deren Rechtswirkung nicht an. Das bedeutet zwar, daß die automatische Geltung einmal (auf der Grundlage der alten Verfassung) getroffener Entscheidungen für zukünftige entfällt. Gleichwohl können die Richter diese Entscheidungen aber weiter in ihrer Urteilsfindung berücksichtigen, müssen diese aber nicht zwingend anwenden.

Kritiker wollen in der auf das Verfassungsgericht bezogenen Grundgesetznovellierung die „Einschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit“ sehen. Daß die unter der alten Verfassung erlassenen Urteile des Verfassungsgerichts ihre Gültigkeit verlieren, ist keine Entmachtung, hat das Gericht doch die Aufgabe, über die gültige Verfassung zu wachen, nicht über die alte. Im übrigen bringt die Novelle sogar eine Ausweitung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts: Nunmehr kommt ihm zusätzlich eine formelle Prüfungskompetenz bei Grundgesetzänderungen zu. Richtig ist zwar, daß das Verfassungsgericht künftig keine inhaltliche Prüfung vornehmen darf. Nur: Diese Kompetenz hatte es auch bisher nicht gehabt. Allerdings sind die Institutionen, welche die nachträgliche Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin verlangen und in die Wege leiten können, um den Obersten Gerichtshof und die Generalstaatsanwaltschaft erweitert worden. Das ist mehr Nachprüfbarkeit denn zuvor.

Foto: Präsident Viktor Orbán und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: Heiße Debatte um die Werte der EU

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen