© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Weder Fisch noch Fleisch
Avantgarden und ihre Kritiker: Das Provokationspotential zeitgenössischer und moderner Kunst hat sich erschöpft / Trend zum politisch Harmlosen / Ist die Moderne erkaltet? / Erster Teil einer JF-Serie
Felix Dirsch

Zu den merkwürdigen Phänomenen der Gegenwartskultur gehört das provokations- und geräuscharme Auftreten der modernen zeitgenössischen Kunst. Was früher gesellschaftlich herausforderte, ist mittlerweile weithin zahm. Der eigentliche Skandal der letzten Documenta-Ausstellung, so konstatiert der Karlsruher Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, bestehe eben darin, daß sie sich als völlig skandalunfähig gezeigt habe.

Eines der wenigen Ärgernisse für manche Besucher des Kasseler Großereignisses 2012, die zuweilen unklare Unterscheidung von Pflanzen, Tier und Mensch, ist wenig überraschend, wird doch im ökologischen Zeitalter auf die mannigfaltigen Interdependenzen der Lebewesen häufig hingewiesen. Wenn Kunst einmal doch den Finger in die Wunde legen will – man denke an Sam Durants Klettergerüst („Schafott“) aus Stahl und Holz auf der letztjährigen Documenta, das auf die weltweite Abschaffung der Todesstrafe hinwirken will –, so wird der Betrachter von Monumentalität fast geblendet.

Dieser Trend zum politisch Harmlosen ist freilich eine relativ junge Erscheinung. Die aufsehenerregende Documenta 5 aus dem Jahre 1972 bleibt den Zeitgenossen nicht zuletzt wegen ihrer politisch-erzieherischen Abteilung im Gedächtnis, die in besonderer Weise durch Joseph Beuys’ Büro für die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ repräsentiert wird. Derartige Aktionen sind, aus nachträglicher Perspektive, indessen als letzte politische Zuckungen der zeitgenössischen Kunst zu bewerten. Danach zeigen sich immer mehr die entpolitisierenden Wirkungen einer Verbindung zwischen ihr und der sich deutlicher abzeichnenden Globalisierung.

Vor dem Hintergrund einer Großwetterlage, in der das sukzessive „Verschwinden der Politik“ (Wolfgang Fach) ein nicht unwesentlicher Bestandteil ist, verwundert das fast vollkommene Fehlen einer durchschlagenden Kunstkritik nicht, die ihren Gegenstand ernst nimmt und diesen nach dem ihm zugrundeliegenden Menschenbild befragt.

Anders als vor über einem Jahrhundert oder noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit existiert keine bürgerliche Schicht mit bestimmtem Geschmacksurteil mehr, die hinter einer derartigen Beargwöhnung stehen könnte. Erst recht ist kein namhafter Gelehrter auszumachen, der sich mit einem diesbezüglichen Urteil an die Öffentlichkeit wagte. Selbst Kritiker mit fundiert-sachlichen Einwänden würden vermutlich in eine Reihe mit jenen gestellt, die vor über sieben Jahrzehnten moderne Kunst pauschal als „entartet“ verteufelten.

Zudem ist die Gegenwartskunst ob ihrer Fülle und ihrer mangelnden inneren Strukturierung schwer faßbar. Man könnte es zugespitzt formulieren: Das weite Feld von „Happening“, „Performance“ und „Land Art“ ist (zumindest politisch gesehen) langweilig geworden – also weder Fisch noch Fleisch.

Wirft man einen Blick in die Kunstgeschichte, ist unschwer ein charakteristischer Unterschied zwischen der Kunst der Moderne, die man üblicherweise zwischen 1880 und 1960 ansetzt, und jener der Postmoderne, die vor rund einem halben Jahrhundert anhebt, festzustellen. Nicht zuletzt der Grad der Politisierung der Kunst rechtfertigt diese Differenzierung.

So vielfältig sich die Kunst der Moderne darstellen mag: Der Künstler dieser Epoche (sagen wir: von Edouard Manet bis zu Francis Bacon) macht sich zumeist das Credo Pablo Picassos zu eigen: „Auch ich war gegen alles.“ Damit geht notwendig der Impuls einher, sich über alles Konventionelle, über alles Überlieferte und Vorgegebene zu erheben – gerade in der Welt der Sujets. Die Abstraktion, die freilich nicht die einzige Option für moderne Kunst darstellt, wird auf diese Weise grundgelegt. Die Expressionisten etwa legen ihr emotionales Temperament in den Gegenstand ihrer Darstellung. Edvard Munchs „Schrei“ ist wohl das berühmteste Exempel dafür.

Einer möglichen Instrumentalisierung des künstlerischen Schaffens zugunsten der Regierenden oder der Religion wird grundsätzlich eine Absage erteilt. Ebenso gerät fast zwangsläufig die traditionelle Hierarchie der Motive in die Krise. Der katholische Schriftsteller Theodor Haecker ereiferte sich einst über den Ausspruch eines französischen Malers, ein gutgemalter Blumenkohl sei ebensoviel wert wie eine Madonna. Demnach ist unstrittig, daß ein (wie immer gearteter) Seinskosmos keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen könne.

Über Jahrhunderte hinweg liefern mythische Erzählungen Stoffe, die künstlerisch verarbeitet werden. Das im 18. Jahrhundert einsetzende Ende dieser Rezeption – darauf weist das Standardwerk von Werner Busch („Das sentimentalische Bild“) hin – führt unweigerlich zum „Verlust der Mitte“. Nachdem Gott zunehmend irrelevant wird, hat der Mensch Chancen, den freigewordenen Platz zu besetzen. Doch der nunmehr dargestellte Mensch ist nicht der aus Fleisch und Blut, den wir kennen. Pablo Picasso, um ein prominentes Beispiel zu erwähnen, sieht es als seine primäre Aufgabe, der Evolution zu trotzen. Er präsentiert Gestaltungen, die Münder verzerrt und Nasen versetzt zeigen. Der Kunsthistoriker Uwe Schneede arbeitet die Absicht des spanischen Genies wie folgt heraus: „Die naturgeschichtlich entwickelte Ordnung wurde bildnerisch in Unordnung gebracht, weil das Bild nach eigener Gesetzmäßigkeit und Ordnung verlangte.“ Kunst in diesem Sinn kann nicht oder nicht mehr in politischer wie in kirchlicher Hinsicht nützlich sein.

Zur Jahrhundertwende kommt es im Deutschen Reich zu Konflikten mit der modernen Kunst, die sich am Impressionismus entzünden. Als der Berliner (später Münchner) Museumsdirektor Hugo von Tschudi viele Gemälde von Malern dieser Richtung aufkauft, verbietet Kaiser Wilhelm II. die Ausstellung derselben an hervorragender Stelle.

Die anschließende Kontroverse in der Öffentlichkeit, die vornehmlich zwischen dem Kunstkritiker Julius Meier-Graefe und dem Gelehrten Henry Thode ausgetragen wird, verdeutlicht, daß es bei dieser Debatte zuerst um Kunst als Indikator eines bestimmten Lebensgefühls geht. Der mondän-liberale Geist, von seinen Gegnern als „zersetzend“ gebrandmarkt, steht dem am urwüchsig-bodenständigen Ideal orientierten gegenüber. So bildet die Diskussion über die Funktion von Kunst in jener Zeit die Rechts-Links-Codierung ab. Die existentielle Dimension der Kunst macht es verständlich, daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Polemik heftiger wird.

Foto: Sam Durant, Das Schafott, Installation auf der 13. Documenta in Kassel (2012): Monumentaler Protest gegen die Todesstrafe

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