© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Billard im Werkzeugkeller
Redakteure und ihre Heimat: Thorsten Thaler ist ein waschechter Frontstädter / JF-Serie, Teil 12
Thorsten Thaler

Heimat? Als gebürtiger Berliner kann die Antwort darauf leicht ausfallen: Janz Berlin is eene Wolke. Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Zur anderen Hälfte gehört, daß die Stadt viel zu groß und viel zu heterogen ist, um sich überall gleichermaßen heimisch zu fühlen. Manche Ecken bleiben einem selbst als Eingeborenem dauerhaft fremd.

Heimat aber hat für mich zu tun mit Geborgenheit, Sich-Auskennen, Vertrautheit. Wie dieser lange schnurgerade Weg, der mir blind vertraut ist. Er führt vom Eingang des Volksparks Jungfernheide in Berlin-Charlottenburg vorbei an dem Wildschweingehege rechter Hand direkt auf den 1927 errichteten Wasserturm zu, an den sich eine große Wiese anschließt. Sie diente uns in meiner Jugend häufig als Bolzplatz. Nicht weit davon entfernt liegt ein Teich, in dem man im Sommer baden konnte und auf dem im Winter, wenn er zugefroren war, Eishockey gespielt wurde. Jedenfalls sofern man als Mindesterfordernis wenigstens Schlittschuh laufen kann, wozu ich eher minderbegabt bin.

Weiter nordwestlich in diesem Park schließen sich Sportplätze an. Sie sind bis heute die Heimat des Fußballvereins SC Westend 01. Dort spielte ich als Steppke jahrelang im Sturm oder zentralen Mittelfeld – und träumte davon, einmal Profi bei Hertha zu werden. Meine Helden hießen Erich „Ete“ Beer, Ludwig „Luggi“ Müller und Lorenz Horr. Ihnen wollte ich nacheifern. Doch nicht alle jugendlichen Blütenträume reifen. Mit dreizehn wurde ich aufgrund eines Fehlverhaltens aus der Mannschaft geworfen; eine Sanktion, die ich nicht bereit war zu akzeptieren. Bei meinem neuen Verein Hellas Nordwest 04 endete zwei Jahre später meine Fußballerlaufbahn – wegen schon damals auftretender Rückenbeschwerden.

Die Jungfernheidepark aber gehört bis heute zu jenen Orten, die sich für mich mit dem Begriff Heimat verbinden. Zu diesen Orten zählt auch das unscheinbare Reihenhäuschen mit dem kleinen Garten meiner Großmutter väterlicherseits im Bezirk Spandau. Wie oft bin ich da nach der Schule hingefahren zum Mittagessen und um anschließend mit meinem Opa Schach zu spielen. Oder wir gingen in den Werkzeugkeller, in dem ein großer Billardtisch stand, und spielten Carambolage. Das ist die klassische französische Variante des Billard, die mit nur drei Bällen gespielt wird. In meiner Erinnerung war ich kaum größer als das Queue, als mich mein Großvater darin unterrichtete. Unvergessen ist mir auch das Gurren der Tauben, wenn ich im Garten auf der Terrasse saß. Es sind diese Momente der Kindheit und Jugend, vertraute Wege, Straßen und Plätze, die Heimat bedeuten. Oder genauer gesagt: die Erinnerung daran. Denn viele davon existieren heute nicht mehr oder haben ihr Antlitz, ihren Charakter völlig gewandelt.

Die unweit der Gedenkstätte Plötzensee zwischen 1961 und 1965 errichtete Siedlung in Charlottenburg-Nord, in der ich aufgewachsen bin, hat sich seit geraumer Zeit zu einem Kriminalitätsschwerpunkt bei Körperverletzungsdelikten, Raubtaten und Autodiebstählen entwickelt. Höchst umstrittene Dachaufbauten, gegen die die Alteingesessenen ebenso vehement wie vergeblich protestierten, führten bereits Anfang der neunziger Jahre zu einem Bevölkerungszuwachs, der dem sozial gefestigten Viertel nicht gut bekommen ist.

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