© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Demokratiekritik
Moralisierte Politik
Kenneth Minogue

Die Demokratie zerstört sich selbst, warnt der renommierte englische Politikwissenschaftler Kenneth Minogue. Der Wohlfahrtsstaat hat uns in die Zange genommen. Je mehr Leistungen er gewährt, desto mehr bestimmt er unser Leben. Der Leviathan kann alles, und wir lassen uns die individuelle Verantwortung rauben. Unter dem Kostendruck des parasitären Staates geht die Wirtschaft in die Knie. Es droht nicht nur das Ende von Christentum und Konservatismus, sondern auch von Liberalismus und Individualismus. Minogue ist überzeugt: Es wird nicht mehr lange dauern. Die JF druckt mit freundlicher Genehmigung einen Auszug aus seinem eben erschienenen Buch.

Es ist ein auffallendes Merkmal der Demokratie, daß sie die Menschen zunehmend dazu veranlaßt, sich öffentlich über die Privatangelegenheiten anderer zu äußern. Wo auch immer die Leute dahinterkommen, daß Geld – privat oder von Amtsträgern – ausgegeben wird, bringen sie gewöhnlich ihre Meinung vor, wie es besser ausgegeben werden sollte. In einem Staat, der zunehmend bis in kleinste Verhaltensdetails hinein verwaltet wird, wird jeder Mensch so sein eigener Phantasie-Despot, der über andere und deren Ressourcen nach Gutdünken verfügt.

Die Demokratie verlangt oder scheint zumindest zu verlangen, daß ihre Bürger zu den meisten Angelegenheiten von öffentlichem Interesse eine Meinung haben. Aber Politik ist ein kompliziertes Geschäft, und es ist kaum möglich, sie intelligent zu kommentieren, ohne sehr viel Zeit für die Details aufzubringen. Andererseits kann jede Politik hinsichtlich ihrer Erwünschtheit beurteilt werden. Jemand mag noch so ignorant sein, er kann immer moralisieren. Und es ist der Hang zum Moralisieren, der die öffentlichen Diskussionen in den heutigen Demokratien dominiert.

Die Politik und die moralische Lebensführung wurden traditionell als verschiedene Bereiche betrachtet. Das Wesen des Politisch-Moralischen ist die Leugnung dieses Problems. Der Planet muß vor Umweltzerstörung gerettet werden, Armut muß besiegt, Krieg muß abgeschafft werden und so weiter. Der bevorzugte Begriff ist „Ethik“. Ein Mensch, der sich zum Beispiel darum bemüht, seinen Anteil am CO2-Ausstoß zu minimieren und so eine klimatologisch reine Existenz zu führen, „führt ein ethisch vertretbares Leben“. Das politisch-moralisch Erwünschte wird im Sinne einer besseren Welt beschrieben. Das Gesellschaftliche ist das Ethische, und das Wesen beider ist Gleichheit.

Zu den politisch-moralischen Projekten gehören die Rettung des Planeten vor Umweltzerstörung, die Armutsbekämpfung in Afrika und anderen Teilen der sogenannten „Dritten Welt“, Verbot von Landminen, der Kampf für die Menschenrechte und die Verhinderung von Kriegen. Es verwundert nicht, daß diese Ziele auf viel Zustimmung stoßen. Wer möchte schon den Planeten zerstören, die Bedürfnisse von Menschen im Ausland ignorieren, den Einsatz von Landminen befürworten, deren schreckliche Folgen sich auch lange nach Beendigung des Konflikts noch bemerkbar machen?

Es ist ihre überwältigend plausible Tugendhaftigkeit, die es den politisch-moralischen Projekten ermöglicht, die Unterstützung aller anständigen Menschen einzufordern. Die Unterstützung dieser Ziele wird selbst zum Kriterium für Anständigkeit. Vor allem junge Menschen finden im Politisch-Moralischen einen Kompaß, an dem sie sich politisch orientieren. Das Ethische wird zum Politischen in einer vereinheitlichten Lebensweise.

Weite Bereiche, die früher der Privatsphäre angehörten, sind politischer Regulierung unterworfen worden. Neue Probleme ergaben sich aus der Entstehung multikultureller Gemeinschaften, und diese wurden ebenfalls staatlicher Regulierung unterworfen. Und im Zusammenhang mit diesen Veränderungen entstanden neue fromme Tugenden, denen zufolge die Individuen ihre Anständigkeit durch ihre politische Einstellung beweisen können. Diese Einstellungen entsprechen normalerweise den hochfliegenden politischen Projekten, die der politisch-moralischen Vision entsprangen, und die Folge davon war eine erzwungene Vereinheitlichung der Einstellungen und der Politik, worin alle tugendhaften Menschen übereinstimmen.

Wir sind jetzt sozusagen alle Gemäßigte. Zur politischen Mitte zu gehören bedeutet nun, daß man sowohl nett wie vernünftig ist, während eine Kritik dieser Positionen, die die „Politik der Mitte“ ablehnt, als „extrem“ gilt und deshalb wahrscheinlich als moralisch verdächtig. Die Begriffe „links“ und „rechts“ werden nun oft durch „Mitte-Links“ und „Mitte-Rechts“ ersetzt, damit dieser grundlegende Wandel in den politisch-moralischen Einstellungen auch semantisch zum Ausdruck kommt. Die „Politik der Mitte“ ist die neue Orthodoxie, und als ethische ist sie gleichermaßen moralisch wie politisch.

Die Regierungen haben fast überall für sich das Recht beansprucht, über Sozialhilfe, Gesundheitsfürsorge sowie Bildung und Erziehung zu bestimmen, und entschieden, daß deren Leistungen generell mit Steuergeldern finanziert werden sollen. Das wird damit begründet, daß individuelle Verantwortung in diesem Bereich nur zu einer Ungleichheit der Versorgung führen kann. Manche würden zurückgelassen und vergessen werden. Ein Minimum von Sozialleistungen kann anscheinend nur so garantiert werden, daß der Staat ermächtigt wird, sie zur Verfügung zu stellen.

Die merkwürdige ethische Grundlage des Politisch-Moralischen ist die Verehrung von Macht und Autorität als dem Agens menschlichen Fortschritts. Wenn dieses grundsätzliche Einvernehmen über die Ziele der Politik auf den internationalen Bereich übertragen wird, führt das zu Konzepten wie dem der „globalen Gerechtigkeit“. Das ethische Ziel war die Ersetzung nationaler Voreingenommenheiten durch einen internationalistischen Universalismus. Diese Hoffnung wurde in gewisser Hinsicht von Organisationen wie den Vereinten Nationen und der Europäischen Union verwirklicht.

Die erste Implikation lautet dabei, daß internationale Organisationen meist, vielleicht sogar immer, weiser und rationaler als Nationalstaaten sind und besser als diese legitimiert, Macht auszuüben. Deshalb werden dem internationalen Recht ein Geltungsbereich und eine Lückenlosigkeit zugesprochen, die es nicht hat. Der Irakkrieg im Jahre 2003 wurde zum Beispiel für rechtswidrig erklärt, obwohl niemals eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hatte oder irgendein Gericht ein Urteil über dessen Rechtmäßigkeit gefällt hatte.

Die zweite Implikation lautet, daß eine rationale und auf Rechten basierende Politik am besten von sachverständigen Bürokratien verwirklicht werden könne und nicht durch demokratische Wahlen. Der erstaunliche politische Bedeutungsgewinn internationaler Wohlfahrtsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erklärt sich ja aus der politisch-moralischen Bewegung. Die NGO ist der natürliche Lebensraum des Ethischen. Man geht von der Annahme aus, daß diese Organisationen den Altruismus guter Absichten verkörpern. Sie sind deshalb nicht abhängig von politischen Interessen, was bei demokratischen Regierungen unvermeidbar ist, deren Pflicht es ist, dem nationalen Interesse zu dienen. Wir stoßen hier auf ein weiteres Paradox dieser von uns untersuchten demokratischen Welt: das demokratische Telos führt direkt zur Untergrabung jeder wahren Demokratie.

Meine These lautet also, daß die moralische Lebensführung, wie ich sie beschrieben habe, bis zu einem gewissen Grade dieser neuen Form moralischen Eiferns weicht, das ich „das Politisch-Moralische“ nenne. Der grundlegende moralische Unterschied zwischen diesen idealtypischen Einstellungen besteht darin, daß im Fall der moralischen Lebensführung das Individuum seine Identität durch persönlich gewählte Verpflichtungen ausbildete. In jener Welt unterschieden sich moralische Fragen von religiösen, obwohl sie eng aufeinander bezogen waren, und in vielen Fällen schloß die Forderung der Religion die moralische Fragestellung aus.

Der Wesenskern der moralischen Lebensführung ist die Tätigkeit des Überlegens. In der politisch-moralischen Welt sind große Teile dieser selbstgewählten Identität in die Standard-Posen der Unterstützung politisch-moralischer Ziele umgewandelt worden. Ein solches Posieren ist heute am deutlichsten in den Forderungen der „politischen Korrektheit“ erkennbar, die von uns verlangen, Menschen jeder Rasse, jeder Religion, jeden Geschlechts und jeder sexuellen Orientierung dieselbe Standard-Anerkennung gemeinsamer Menschlichkeit zukommen zu lassen. Diese Forderung schließt insbesondere die Bevorzugung von seinesgleichen aus, eine für die meisten Menschen instinktive Haltung.

Auf den ersten Blick könnte der Unterschied zwischen dem Moralischen und dem Politisch-Moralischen sehr gering erscheinen. Bei der moralischen Lebensführung wird davon ausgegangen, daß der Handlungsträger ein vernünftiger Wille ist, dessen Verhalten auf die Umstände reagiert, wie er sie versteht. Beim Politisch-Moralischen ist bereits vorab festgelegt, was vernünftig ist. Es liegt die durch die politische Korrektheit zusammengestellte Liste von politischen Geboten und Verboten vor, ergänzt durch ein paar auf die aktuellen Moden – wie etwa Rauchen oder die körperliche Züchtigung von Kindern – eingehende Anweisungen. Diese Liste nimmt die Form einer lückenlosen Orthodoxie an.

Moralische Erklärungen, die sich dieser Terminologie bedienen, kann man von jedem hören, der glaubt, einen didaktischen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit zu haben. Sie sind die heutige Sprache der Macht. Es handelt sich dabei um eine Form moralischer Kontrolle, wobei staatliche Reglementierungen wie Befehle funktionieren. Ein Beispiel dafür wäre etwa das Gesetz, das „hate speech“ – „Haßrede“ im Sinne von „Volksverhetzung“ – verbietet, oder die darüber hinausgehende Demonstration frommer Denkungsart, die manche Ansichten diskussionslos verbannt. In manchen europäischen Ländern gilt die öffentliche Leugnung des Holocaust als Straftat, und andere Länder haben vorgeschlagen, die Leugnung des vom Menschen verursachten Klimawandels zu kriminalisieren.

Der entscheidende Punkt, der das Politisch-Moralische von der moralischen Lebensführung unterscheidet, ist psychologischer Art: es ist wesentlich nachahmend statt reflektierend. Das zeigt sich auch an der Beliebtheit von „role models“, Vorbildern oder Identifikationsfiguren. Von Prominenten, die andere durch ihr Verhalten beeinflussen könnten, wird erwartet, daß sie die korrekten Ansichten vertreten, Rauchen und Drogen meiden und sich so der Nachahmung seitens der jungen Menschen wert erweisen. Sie werden über die Verantwortung, die sie tragen, belehrt und scharf kritisiert, wenn sie ihr nicht gerecht werden. (...)

Ein sentimentaler Moralismus vermag langfristig die europäische Kultur insgesamt zu zerstören.

 

Kenneth Minogue, Jahrgang 1930, ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der London School of Economics. Der gebürtige Australier war Kolumnist unter anderem für die Times und hat zahlreiche Artikel und Bücher zu einem weiten Spektrum politischer und politisch-philosophischer Themen veröffentlicht.

Kenneth Minogue: Die demokratische Sklavenmentalität – Wie der Überstaat die Alltagsmoral zerstört. Edition Sonderwege bei Manuscriptum, Waltrop 2013, gebunden, 458 Seiten, www.manuscriptum.de

Foto: Wahlplakate etablierter Parteien: Die „Politik der Mitte“ ist die neue Orthodoxie.

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