© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Aufklärung durch Ameisen
Das Menschenbild des Amerikaners Edward Wilson / Multikulturelle Thesen in biologistischer Verpackung
Marko Wichmann

Nach dem Tod des Medizin-Nobelpreisträgers Konrad Lorenz (1903–1989) gilt Edward Osborne Wilson als berühmtester Biologe unserer Zeit. Die weltweite Beachtung, die jede Veröffentlichung des inzwischen 83jährigen emeritierten Harvard-Zoologen erfährt, resultiert jedoch nicht aus einer Faszination für sein engeres Spezialgebiet, das Studium des sozialen Verhaltens von Ameisen. Damit hätte der aus Birmingham/Alabama stammende Wilson sich sowenig über den akademischen Resonanzraum hinaus Gehör verschaffen können wie Lorenz einst mit seinen Beobachtungen über das Instinktverhalten von Graugänsen.

Auf breites öffentliches Interesse stießen beide Biologen erst dadurch, daß sie als Naturwissenschaftler einen weltanschaulichen Deutungsanspruch bei der Bestimmung dessen erhoben, was Philosophen und Theologen „das Wesen des Menschen“ nennen. Nicht zufällig griffen sie daher auf der Basis ihrer biologisch fundierten Weltsicht in den siebziger Jahren in die Debatte um die „Grenzen des Wachstums“ ein, engagierten sich für den Natur- und Umweltschutz und plädierten für eine ökologische Reform der Industriegesellschaften. Wilson gilt bis heute als prominentester Verteidiger, als „Vater“ der Biodiversität, als unermüdlicher Warner vor dem drohenden großen Artenschwund infolge des menschlich induzierten Klimawandels.

Wilsons Ehrgeiz, als Biologe die Domäne der Geistes- und Sozialwissenschaftler zu erobern und ein streng naturwissenschaftlich fundiertes Menschenbild zu liefern, hat früh kritische Reaktionen provoziert. Seit er Folgerungen aus der von ihm begründeten Soziobiologie der Insekten auch für menschliche Sozialverbände zog, haftet ihm das Stigma des „rassistischen Sozialdarwinisten“ an. Zumal in den Jahrzehnten nach 1945, als von pädagogischem Enthusiasmus und Perfektibilitätsglauben befeuerte Sozialingenieure zwischen New York und Moskau nichts davon hören wollten, daß, wie es ein Hauptwerk Wilsons in deutscher Übersetzung formulierte, „Biologie Schicksal“ sei.

Auch in seinem jüngsten Buch, das eine „biologische Geschichte des Menschen“ erzählt, schert sich der oft so verspottete „Vollstrecker Darwins“ nicht im geringsten um Fachgrenzen. Selbstbewußt behauptet er die allein seriöse Welterklärungskompetenz der Naturwissenschaften, sarkastischer denn je wird vor allem die „archaische“ religiöse Konkurrenz abgefertigt. Ganz im positivistischen Geist der Religionskritik von Ludwig Feuerbach bis Ernst Haeckel führt er den Ursprung der Gottesideen auf soziobiologisch nützliche Funktionen solcher Vorstellungen zurück.

In scharfer Abkehr von der eigenen Erziehung im baptistisch-evangelikalen Milieu der US-Südstaaten tut er Schöpfungsmythen als Erzeugnisse des Drogenrausches ab. Zwar hätten Religionen Gruppen stabilisiert, Individuen psychische Sicherheit vermittelt, aber um den Preis der „Selbstaufgabe und Versklavung“. Den solle die Menschheit, der eine neue, biologisch geleitete Aufklärung not tue, nicht länger zahlen, indem sie „falschen Propheten“ wie dem Papst, Großrabbinern oder „Vorstehern der heiligen Moscheen“ nachlaufe.

Die Botschaft des Propheten Wilson hingegen lautet: Der Spiegel der Naturgeschichte, nach dem man sich künftig zu richten habe, zeige den Menschen seit zwei Millionen Jahren, vom Erscheinen der Hominiden, über die weltweite Ausbreitung des mit Ansätzen zu abstraktem Denken und syntaktischem Sprachgebrauch begabten Homo sapiens 100.000 Jahre „vor heute“, über die „kreative Explosion“ im Vorfeld der jungsteinzeitlichen „Zivilisationen“ um 10.000 v. Chr. bis zur postindustriellen Moderne, als soziales Säugetier.

Motor seines an vielen Sackgassen des Evolutionslabyrinths mitunter knapp vorbeischlitternden Weges zur „Weltherrschaft“ war die Etablierung der „Eusozialität“ (The insect societies, Belknap Press 1971). Darunter versteht Wilson Systeme echter sozialer Beschaffenheit, die gemeinschaftsdienliches Verhalten generieren, stabile Fähigkeiten zu Arbeitsteilung und Kooperation. Wie unter den unzähligen Wirbellosen nur wenige Arten wie Ameisen, Termiten oder Wespen die Schwelle zum organisierten Gruppenleben überschritten haben, so bildete unter den Säugetieren allein der Mensch eine Existenz im dichten Netzwerk sozialer Beziehungen aus.

Ein Triumph der Evolution, der sich in drastischer Anschaulichkeit erst im Vergleich mit der rudimentären Sozialität der intelligentesten Säuger, Schimpansen und Delphinen, zeige. Diesen Erfolg schreibt Wilson einer bei Ameisen wie bei Menschen genetisch fixierten „Gruppenselektion“ zu. Damit würden „altruistische“ Eigenschaften wie Opfersinn, Empathie, Hilfsbereitschaft vererbt oder „egoistische“ zumindest unterdrückt. Wilson verabschiedet sich hier von der auch von ihm bis vor kurzem verfochtenen gängigen Theorie der Individualselektion, der zufolge die Kräfte biologischer Auslese allein am individuellen genetischen Code ansetzen können. „Gruppen“, so lautet der Einwand der breiten Front der Wilson-Kritiker, erzeugen schließlich keine Nachkommen, können also nicht „vererben“, was ihnen im „Kampf ums Dasein“ Vorteile verschafft. Entsprechend kleinlaut muß Wilson einräumen: „Bisher wurden eusoziale Gene noch nicht identifiziert.“ Für das Phänomen der Gruppenkohäsion bleibt mithin das Paradigma der Verwandtschaftsselektion in Geltung: der soziale Kitt ergibt sich aus ethnischer Homogenität, sozial verhalten sich Individuen, weil sie genetisch gleich bis ähnlich sind, zu einem „Stamm“ gehören.

Obwohl Wilson dekretiert: „Menschen brauchen einen Stamm“ und die Vorteile des genetisch determinierten „Ethnozentrismus“ einräumt – wenn auch als „unbequeme Tatsache“ –, soll das Konzept der Gruppenselektion offenbar helfen, ein konträres, den „Tribalismus“ in Richtung „kosmopolitische Einstellung“ überwindendes, normatives Selbstbild des Menschen zu kreieren. Dafür ersetzt seine Evolutionsbiologie Verwandtschaft durch die „weltoffene“ Funktionalität der Gruppenselektion.

Sein alles andere als „rassistischer“, nämlich multikulturell durchzogener Biologismus stellt sich mithin ausdrücklich die Aufgabe, „Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, räumliche Herkunft und Nationalität als Identifikationsquellen“ zu schwächen und, ungeachtet seines Kampfes für die „Biodiversität“ des Planeten, an der „Homogenisierung der Menschheit“ mitwirken zu wollen – bis die Bevölkerung von Stockholm irgendwann genetisch identisch sei mit der von Chicago oder Lagos.

Kostenlose elektronische Fassung von Edward O. Wilsons Buch „Success and Dominance in Ecosystems – The Case of the Social Insects“ (Ecology Institute, Oldendorf 1990): int-res.com

US-Fernsehporträt über Edward O. Wilson: youtube.com

Edward O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde. Verlag C. H. Beck, München 2013, gebunden, 384 Seiten,  22,95 Euro

Foto. Ameisengruppe: Homogenisierung, bis die Bevölkerung von Stockholm irgendwann genetisch identisch ist mit der von Chicago oder Lagos

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