© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Sezessionsbestrebungen in der EU
Die Kraft der Peripherie
Martin Schmidt

Anders als die blutige Zäsur in den Schützengräben Flanderns 1914 hat das bevorstehende Schicksalsjahr 2014 keineswegs Krieg und nicht zwingend Armut und politisch-wirtschaftlichen Niedergang zur Folge. Im Gegenteil: Es könnte sich als Befreiungsschlag von übermäßigem Zentralismus, ausufernder Bankenmacht und materialistischer Entfremdung von der europäischen Idee erweisen. Ein „Weiter so“ in der Europapolitik darf es jedenfalls nicht geben, andernfalls erreicht die als Folge der Fehlkonstruktionen des Euro zu beobachtende Vergiftung der Beziehungen zwischen EU-Mitgliedsvölkern ein noch gefährlicheres, irgendwann nicht mehr kontrollierbares Ausmaß. Denn längst stiftet der Euro mehr Unfrieden als Frieden.

Ein Weckruf war die Italienwahl. Der Erfolg des Komikers Beppe Grillo mit seiner EU-skeptischen und Euro-feindlichen Bewegung „Fünf Sterne“ als einziger Wahlsiegerin ist nicht nur eine schallende Ohrfeige für das italienische politische Establishment, sondern stellt auch die Eignung der Brüsseler und Berliner Krisenrezepte in Frage. Die andauernde Hängepartie in Rom hat den Schleier von der illusionären Vorstellung eines Ausklingens der Euro- und Schuldenkrise gerissen. Endlich, meinen auch viele Deutsche, denen die letzten Wochen und Monate wie ein absurdes Gemisch aus Realitätsverdrängung, Zweckoptimismus und medialer Manipulation erschienen.

Fest steht, daß weder die konjunkturellen Rahmendaten der EU-Krisenstaaten wirklich besser geworden sind – bei Spanien, Italien, Zypern und auch Frankreich geht es sogar immer weiter bergab – noch die Stimmung in der breiten Bevölkerung der südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Fest steht auch, daß die bevorstehenden Debatten und politischen Veränderungen nur einen Vorgeschmack dessen bieten, was Europa 2014 an potentiellen Umbrüchen erwartet. Denn das kommende Jahr bringt nicht nur die Wahl zum Europäischen Parlament sowie den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, sondern mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit erhebliche Grenzveränderungen im Süd- und Nordwesten des Kontinents. Nach einer Unabhängigkeitserklärung Kataloniens, Schottlands und des Baskenlandes könnte Europa nach 2014 schlagartig anders aussehen.

Blicken wir zurück: Auf den demokratischen „Völkerfrühling“ von 1989/90 folgte die Osterweiterung der EU, die dadurch erheblich vielgestaltiger wurde. Doch statt dem Rechnung zu tragen, die Machtkonzentration in der EU-Hauptstadt Brüssel zurückzunehmen und nur bestimmte Bereiche der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik übernational zu vereinheitlichen, folgte eine über anderthalb Jahrzehnte währende massive Zentralisierung. Diese erreichte mit der Bar-Einführung des Euro im Januar 2002 ihren symbolischen Höhepunkt, der – so läßt sich rückblickend feststellen – zugleich die Wende einleitete.

Spätestens mit den Euro-Krisenjahren 2008 bis 2012 setzte eine Gegenbewegung ein, die parallel zur altbekannten hochideologischen Einigungsrhetorik maßgeblicher Politiker und Medien ein Wiedererstarken zumindest mancher Einzelstaaten bewirkte und zentralistische Strukturen europaweit problematisierte. Ihren letzten aufsehenerregenden Ausdruck vor der Italienwahl fand diese Entwicklung im Februar: Auf Drängen der Nettozahler Großbritannien und Deutschland wurde erstmals seit Bestehen der Union ein rückläufiger Haushalt beschlossen, mit dem sich der Finanzrahmen für 2014 bis 2020 auf 960 Milliarden Euro verringert. Das Europaparlament in Straßburg reagierte empört, weil es in der Entscheidung nur den Anfang vom Ende Brüsseler und Straßburger Allmachtsphantasien wittert.

Die britische EU-Diskussion ist von erheblicher Bedeutung für die weitere Entwicklung des Kontinents. Sie gipfelte in der Europa-Rede von Premier David Cameron am 23. Januar, in der der Regierungschef eine Änderung der EU-Verträge forderte und eine Volksabstimmung über den Austritt seines Landes bis 2017 ankündigte.

Das Londoner Signal ist nicht zu unterschätzen. Tatsächlich liegen die Ursachen für den Desintegrationsprozeß im Wesen der real existierenden EU und des Euro, der in Südeuropa zu schwerwiegenden sozialen Verwerfungen führt und von London – nicht zuletzt aus taktischen Gründen und nationalem Eigeninteresse – ehrlicher analysiert wird als beispielsweise von deutschen Bundestagspolitikern.

Die entscheidenden Veränderungen könnten sich aber weder in England oder Italien ereignen, sondern in Katalonien, Schottland, dem Baskenland und Flandern. Und sie sind auch nicht vorwiegend finanzpolitischer, also materieller Natur, sondern beruhen auf unterschiedlichen kulturellen und geschichtlichen Prägungen. Die Euro-Krise ist nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringen könnte.

So war der 11. September 2012 ein Schlüsseldatum. An diesem katalonischen Nationalfeiertag demonstrierten zwischen einer und anderthalb Millionen Katalanen für die Unabhängigkeit; eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, daß das kleine Gebiet im äußersten Nordosten der Iberischen Halbinsel nur 7,5 Millionen Einwohner zählt, darunter viele Einwanderer aus Kastilien, Andalusien und Marokko. Es handelte sich um die größte antispanische Demonstration aller Zeiten, die die zusammen mit dem Baskenland industriell und technisch landesweit führende, aber auch am höchsten verschuldete Region nachhaltig erschütterte.

Bei der vorgezogenen Regionalwahl vom 25. November verfehlte die bürgerliche nationalistische Partei Convergència i Unió (CiU) von Ministerpräsident Artur Mas wegen ihrer Sparpolitik zwar die angestrebte absolute Mehrheit deutlich, regiert aber seither mit einer satten Mehrheit gemeinsam mit der deutlich gestärkten und in der Unabhängigkeitsfrage noch entschiedeneren linksnationalistischen Esquerra Republicana (ERC). Beide Parteien streben ein Referendum über die Trennung von Spanien noch in der laufenden Legislaturperiode an, und zwar möglichst vor der geplanten schottischen Abstimmung im Herbst 2014. Das Regionalparlament in Barcelona verabschiedete im Januar eine symbolische Souveränitätserklärung, mit der es seine Forderungen unterstrich. Und die Erfolgsaussichten erscheinen derzeit – allen Einschüchterungsversuchen aus Madrid und Brüssel zum Trotz – gut.

Letzteres gilt auch für das benachbarte Baskenland, wo bei den jüngsten Regionalwahlen im Herbst 2012 (JF 44/12) erstmals zwei nationalistische Parteien eine klare Mehrheit gewannen: Die bürgerliche Baskische Nationalistische Partei (PNV) erzielte knapp 35 Prozent, und die radikalere linksnationalistische Bewegung Bildu kam auf Anhieb auf rund 25 Prozent. Dagegen stürzten die zuvor in der Region regierenden pro-spanischen Sozialisten von 31 auf 19 Prozent ab, und die in Madrid tonangebende konservative Volkspartei verlor zwei Prozent und kam auf klägliche zwölf Prozent. Der neue Regierungschef Inigo Urkullu von der PNV kündigte an, die 2,2 Millionen Einwohner seines Heimatlandes in den nächsten Jahren ebenfalls über die Frage der Unabhängigkeit abstimmen zu lassen.

Ebenso wie in Barcelona und Vitoria gab es auch in Edinburgh wichtige Weichenstellungen. Am 15. Oktober letzten Jahres unterzeichneten der britische Premier Cameron und Alex Salmond, Vorsitzender der regierenden Schottischen Nationalpartei (SNP) und „First Minister of Scotland“, einen Vertrag, in dem festgeschrieben ist, daß noch vor Ende 2014 in Schottland eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit durchgeführt werden solle. Der Zuspruch dafür von seiten der verschiedensten regional verankerten Akteure ist durch die Bank weg groß.

Die Parallelen der schottischen Nationalbewegung zur katalanischen und baskischen sind evident: Weite Teile der Jugend stehen hinter ihr, es gibt eine überparteiliche Strategie jenseits des Links-Rechts-Schemas, eine immer wirkmächtigere eigenständige Identität und wirtschaftspolitische Notwendigkeiten, die in breiten Bevölkerungsschichten den Willen zu einem nationalstaatlichen Aufbruch stärken.

Aus britischer Sicht ist das für das Referendum im Norden der Insel festgeschriebene Jahr 2014 wenig verheißungsvoll: Am 24. Juni wird der 700. Jahrestag des Sieges der schottischen Aufständischen unter Robert the Bruce in der Schlacht von Bannockburn über ein dreimal so großes Heer des englischen Königs Edward II. gefeiert, und auch das zum zweiten Mal stattfindende, von Schotten aus aller Welt besuchte „Year of Homecoming“ als großangelegtes Kultur- und Kunstfestival dürfte im Vorfeld der Abstimmung sezessionistische Hochgefühle nähren.

Für eine Beibehaltung des vor gut 400 Jahren durch die Zusammenlegung des englischen und des schottischen Parlaments besiegelten Vereinigten Königreiches spricht demgegenüber die starke Anglisierung der dicht besiedelten Borderlands mit ihrer in weiten Teilen klar gegen einen Unabhängigkeitskurs eingestellten englischen Mehrheitsbevölkerung. Ohne diese Sondersituation im Süden des Landes wäre die Mehrheit der schottischen Bevölkerung für die volle Eigenständigkeit längst überwältigend groß.

Doch auch die Probleme mit den Borderlands und die derzeit ungünstig erscheinenden Meinungsumfragen sind möglicherweise kein Hindernis für die Ausrufung eines kulturgeschichtlich tief verankerten weiteren Nationalstaats im Nordwesten Europas. Denn mit einem eventuellen Abstimmungserfolg der Katalanen im Rücken könnte sich die Stimmung rasch drehen. Nicht zu vergessen sind die historischen Sympathien und denkbaren außenpolitischen Hintergedanken Frankreichs in dieser Frage.

Aus gutem Grund gibt sich Alex Salmond zuversichtlich: „Es hieß immer, es würde nie ein schottisches Parlament geben, und es gibt eines. Es hieß auch immer, wir würden nie eine Wahl gewinnen, und 2007 haben wir gewonnen. Es hieß, wir würden nie die absolute Mehrheit erlangen, und wir haben sie. Heute heißt es, wir würden nie ein Referendum über die Unabhängigkeit gewinnen.“

Darüber hinaus gewinnen in ganz Europa identitäre und basisdemokratische Tendenzen an Durchschlagskraft – man denke beispielsweise an Flandern, Südtirol oder an die Autonomiebestrebungen in der Lombardei, in Oberschlesien oder im Szeklerland –, die vor dem Hintergrund einer sich rasch verändernden multipolaren Welt und alternativ zu den negativen Begleiterscheinungen der Globalisierung neue Chancen in dezentraleren Strukturen sehen. Unseren Heimatkontinent, der keinesfalls mit der derzeitigen EU und erst recht nicht mit dem Euro-Raum gleichgesetzt werden kann, würde deren Erfolg vor die Herkulesaufgabe stellen, die wieder wachsende Heterogenität in politischen Schlüsselfragen zu überwinden und so der Stimme Europas international Gehör zu verschaffen.

Andererseits könnte die in Materialismus und Bürokratismus erstarrte Europaidee auf diesem Weg wieder an Beliebtheit in der breiten Bevölkerung gewinnen und idealerweise stärker denn je ausstrahlen.

 

Martin Schmidt, Jahrgang 1966, studierte Geschichte und Germanistik. Heute arbeitet er als Freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt Volksgruppen- und Minderheitenpolitik.

Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß die europäische Staatengemeinschaft in einer tiefen Legitimationskrise steckt. Doch Europa ist mehr als die EU. Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht unser Kontinent politisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell, demographisch? Wie kann es weitergehen, in welchen Strukturen, auf welche Horizonte zu? Gibt es Perspektiven für ein einiges Miteinander selbstbestimmter Völker jenseits des ungeliebten Brüsseler Zentralismus? Die neue Serie auf dem „Forum“ eröffnet ein Beitrag des JF-Europa-Korrespondenten Martin Schmidt.

Foto: Für ein Europa der Vaterländer: Hunderttausende Katalanen gingen am 11. September 2012 in Barcelona für ein unabhängiges Katalonien auf die Straße

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