© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Der Flaneur
„Hallo, wo leben wir denn?“
Ellen Kositza

Gern helfe ich der jungen Frau mit ihrem Kinderwagen in den Bus. Der Fahrer hat zwischen Bordstein und Einstieg eine Kluft gelassen. Die Frau flucht: „Ist alles nicht auf Kinder ausgerichtet in diesem Land!“ Sie findet einen Sitz neben dem Wagen, selbst ihre Einkaufstaschen finden einen Platz. Das kleine Mädchen, niedlich ausstaffiert mit Spängelchen im Flusenhaar, nuckelt am Schnuller, die Mutter tippt eilig eine Botschaft in ihr Kommunikationsgerät.

Da tritt eine weitere Mutter hinzu, Küßchen, man kennt sich. Deren Kleinkind quengelt, die Mutter reicht eine Süßigkeit, es wird um mehr gebettelt. Das eröffnet das Horrorthema. Wie es nerven kann! Das werde sie, die Kinderwagenmutter, noch merken. Die merkt bislang, wie kraß die Kosten sind. Ich sag dir!

Sie weist auf die Taschen: Fast alles für die „junge Dame“! Da hat der Windeleimer fast hundert Euro gekostet, nun müssen laufend Nachfüllkassetten gekauft werden, für die Tüten, die den Scheiß, entschuldige, geruchsdicht entsorgen. Dann sei der Dosierer für das Milchpulver kaputtgegangen in der Spülmaschine, alles nur noch Schrottware! „Meine Mutter sagt: Nimm doch einen Eßlöffel zum Abmessen. Na klar! Weil das ja supergenau ist! Hallo, wo leben wir denn? Wenn die der Kleinen Milch gibt, mißt sie die Temperatur per Handgelenk. Mittelalter!“

Die Mama zieht aus dem Taschenuniversum eine Pappverpackung hervor: „Hier. Mein altes Milchthermometer war so was von debil. Das hier gab’s für elf Euro, digital. Aber ich mein: Elf Euro sind elf Euro. Ich frag mich, was die denken, wovon eine junge Familie leben soll.“

Das Gegenüber winkt ab und wickelt ein Karamellstückchen aus. „Da hast du keine Ahnung, was auf dich zukommt. Die fressen einem die Haare vom Kopf. Familienpolitik, ha! Ich sag: Gebärmaschinen herzlich willkommen, aber blechen müßt ihr schon selbst!“

Der Haarevomkopffresser gibt derweil keine Ruh. „Das Finanzielle ist noch das Geringste, das kann ich dir versprechen.“ Die Kinderwagenfrau muß aussteigen. Man sieht sich „im Gym“, Küßchen.

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