© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Viele Widersprüche lassen viele Zweifel
NSU-Prozeß: Trotz eines Großaufgebots von Anwälten und Zeugen ist zweifelhaft, ob es gelingen wird, die zahlreichen offenen Fragen zu beantworten
Felix Krautkrämer

Sommer 2011 auf der Insel Fehmarn. Urlauber nehmen an einer Aerobic-Stunde teil. Unter ihnen auch eine junge Frau, braungebrannt mit Sonnenbrille, die schwarzen Haare zum Zopf nach hinten gebunden. Sie trägt ein schwarzes, ärmelloses Top, schwarze Leggins mit rosa Streifen an der Seite und weiße Turnschuhe, während sie sich gemeinsam mit den anderen Teilnehmern im Takt zur Musik bewegt. Die Szene wurde von einem Kamerateam aufgenommen, zu Werbezwecken für ein Porträt über die Insel. Die Frau auf dem Video: Beate Zschäpe.

Entdeckt hat die Aufnahmen der NDR, der sie in einer Dokumentation über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) an diesem Montag ausstrahlte. In der Sendung heißt es, die Teilnehmer der Aerobic-Stunde hätten von den Aufnahmen für den Werbefilm gewußt. Wer sich nicht filmen lassen wollte, hätte gehen können. Beate Zschäpe hielt dies nicht für notwendig. Und das, obwohl sie sich zu diesem Zeitpunkt laut Bundesanwaltschaft zusammen mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos seit dreizehneinhalb Jahren im Untergrund befand und für die Ermordung von neun ausländischstämmigen Kleinunternehmern sowie einer Polizistin, zwei Sprengstoffanschläge in Köln und mehr als ein Dutzend bewaffnete Raubüberfälle verantwortlich sein soll.

Zschäpe lebte wie ihre mutmaßlichen Komplizen Mundlos und Böhnhardt unter falschen Identitäten, legte sich Legenden zurecht und vermied alles, um nicht als eine der drei 1998 untergetauchten Rechtsextremisten aus Jena identifiziert zu werden. Und trotzdem stand sie an diesem Tag im September 2011 bereitwillig vor der Kamera.

Hinzu kommen zahlreiche Aufnahmen aus anderen Urlauben, auf denen sich das Trio von Campingbekanntschaften ablichten ließ und diesen sogar zum Teil Monate später CDs mit gemeinsamen Fotos schickte. Ein für Terroristen nicht gerade typisches Verhalten und nur eine der vielen Merkwürdigkeiten, die den Fall der sogenannten Zwickauer Terrorzelle auch nach rund anderthalb Jahren Ermittlungsarbeit bestimmen.

Ab der kommenden Woche muß sich Zschäpe als einzige Überlebende des Trios vor dem Oberlandesgericht in München verantworten (siehe Infokasten). Fast 500 Seiten umfaßt die Anklageschrift. 280.000 Seiten füllen die Ermittlungsakten. 606 Zeugen sollen in den bislang 68 anberaumten Prozeßtagen angehört werden. Und dennoch ist zweifelhaft, ob es in dem Verfahren gelingen wird, die zahlreichen offenen Fragen im Fall des NSU zu beantworten und bestehende Ungereimtheiten aufzuklären. Zschäpe hat bislang jede Aussage verweigert, und es ist nicht davon auszugehen, daß sie ihre Haltung während der Verhandlung ändern wird. Die Anwälte der 38jährigen bestreiten die Vorwürfe gegen ihre Mandantin.

Hinzu kommt, daß die zwei mutmaßlichen Haupttäter Mundlos und Böhnhardt tot sind und nicht mehr zur Aufklärung beitragen können. So wird vermutlich nie herauskommen, warum sich die beiden nie zu Lebzeiten zu den ihnen angelasteten Morden bekannten, wie Terroristen es für gewöhnlich tun. Denn das Bekenntnis zur Tat ist für Terroristen unabdingbar. Wie anders soll die Öffentlichkeit sonst von ihren Motiven erfahren, wie sonst sich ihre Ideale verbreiten?

Gleiches gilt für die Frage, warum die Mordserie an den Ausländern 2006 so plötzlich endete. Welchen Grund dafür gab es? Niemand ahnte, daß es sich bei den Tätern um Rechtsextremisten handeln könnte. Im Gegenteil: Polizei und Medien vermuteten eher die türkische Wettmafia oder ausländische organisierte Kriminalität hinter den sogenannten „Döner-Morden“.

Unklar wird wohl auch bleiben, warum Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 die Dienstwaffe der 2007 in Heilbronn erschossenen Polizistin Michèle Kiesewetter (JF 39/12) im Wohnmobil mit zu ihrem letzten Bankraub nach Eisenach nahmen. War ihnen nicht klar, daß – sollte etwas schiefgehen – sie mit der Tat in Verbindung gebracht würden?

Ebenso verhält es sich mit den teilweise noch mit Banderolen versehenen 23.000 Euro, die sich in dem ausgebrannten Wohnmobil fanden und die aus einem Banküberfall im thüringischen Arnstadt zwei Monate zuvor stammen sollen. Waren sie dermaßen unbedarft? Nur, wie konnten sie dann mehr als 13 Jahre lang unerkannt quer durch die Republik schwerste Straftaten verüben? Und warum wählten sie am Ende den Freitod, anstatt zu versuchen, sich in einem großen Finale den Weg freizuschießen (JF 50/12). Schließlich standen ihnen lediglich zwei Streifenpolizisten gegenüber. Sie dagegen hatten drei Pistolen, zwei Revolver, zwei Pumpguns und eine Maschinenpistole bei sich.

Andere Fragen, über die die Ermittlern nach wie vor rätseln, könnte dagegen Zschäpe beantworten, wenn sie denn aussagen würde – und immer vorausgesetzt, die Vorwürfe gegen sie treffen auch zu. Zum Beispiel, wie sie davon erfuhr, daß bei dem Bankraub in Eisenach etwas schiefgelaufen war und Mundlos und Böhnhardt – ihre „Familie“, wie sie die beiden nannte – sich das Leben genommen hatten. Einen Anruf von ihnen erhielt sie nicht. In der Prüfung von Zschäpes Haftbeschwerde hieß es seitens des Bundesgerichtshofs Ende Februar 2012 hierzu nur, sie sei von den Ereignissen „auf unbekanntem Wege in Kenntnis gesetzt“ worden.

Laut Anklageschrift setzte sie daraufhin die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand, um alle Beweise und Spuren zu vernichten, „durch die sie und ihre beiden Komplizen als Verantwortliche der terroristischen Verbrechen des ‘NSU’ hätten überführt werden können“. Allerdings ohne Erfolg, denn die Ermittler fanden in der Brandruine Unmengen an belastendem Material. Waffen, Computer, DVDs, Tatortskizzen und mehr. Und warum verschickte Zschäpe anschließend mehrere Exemplare des vermeintlichen Bekennervideos des NSU, wenn sie die Beweise für die Taten doch vernichten wollte? Wie gelangten einige dieser DVDs unfrankiert zu ihren Empfängern, in Städten, in denen sich Zschäpe auf ihrer viertägigen Flucht nachweislich nicht aufhielt?

Vielleicht könnte Zschäpe auch Auskunft darüber geben, warum Mundlos und Böhnhardt im April 2007 die deutsche Polizistin Kiesewetter erschossen haben sollen. Haß auf Ausländer scheidet als Motiv in diesem Fall aus. Und warum benutzten die beiden nicht, wie bei den übrigen ihnen zur Last gelegten Morden, die Ceska 83, sondern eine Tokarew TT-33, Kaliber 7,62 und eine Radom VIS, Kaliber 9 mm? Wie waren sie in den Besitz der Waffen gekommen, und waren mit diesen in der Vergangenheit bereits andere Verbrechen begangen worden? Die Bundesanwaltschaft will sich dazu bislang nicht äußern. Im Prozeß aber wird sie hierauf antworten müssen.

Die Rolle des Verfassungsschutzes im Fall des NSU wird in dem Verfahren dagegen vermutlich nicht behandelt werden, und wenn, dann höchstens am Rande. Dabei wirft die Vernichtung von mehreren Akten direkt nach dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle durchaus Fragen auf. Auch die Anzahl der V-Leute im mutmaßlichen Unterstützerumfeld des NSU ist längst nicht geklärt. Hinzu kommen Berichte, nach denen Zschäpe selbst zumindest zeitweise in Kontakt mit einer der deutschen Sicherheitsbehörden gestanden haben könnte. Hinweise in den Akten der NSU-Untersuchungsausschüsse stützen diese Vermutung (JF 29/12).

Und auch der Rücktritt von insgesamt fünf Verfassungsschutzchefs im Zuge der NSU-Ermittlungen, darunter auch der Präsident des Bundesamtes, Heinz Fromm, trägt nicht gerade dazu bei, den Verdacht zu entkräften, die Geheimen könnten von dem Treiben der Zwickauer Zelle gewußt und die Täter vielleicht sogar gedeckt haben. Auch wenn es dafür keinerlei Beweise gibt. Offiziell gilt menschliches Versagen als Ursache für die durchaus seltsam anmutenden Pannen in den Verfassungsschutzämtern.

Letztlich ist das Ergebnis des Verfahrens gegen Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten mittlerweile aber zweitrangig. Denn die Vorverurteilung durch Medien und Politik – vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis hin zu Bundeskanzlerin und Bundespräsident – hat bereits stattgefunden. Für sie alle ist die Schuldfrage längst geklärt. Und jedes andere Ergebnis wäre somit eine riesige Blamage.

 

NSU-Prozeß in München beginnt am 17. April

Der sogenannte NSU-Prozeß gegen Beate Zschäpe (38) und vier weitere Beschuldigte unter anderem wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a Strafgesetzbuch) beginnt am 17. April dieses Jahres. Die Verhandlungstermine reichen derzeit bis Mitte Januar 2014.

Verhandelt wird die Strafsache mit dem Aktenzeichen 6 St 3/12 vor dem 6. Strafsenat am Oberlandesgericht München. Dieser sogenannte Staatsschutzsenat besteht aus dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl (60) und vier weiteren Berufsrichtern; außerdem nehmen an der Verhandlung zwei Schöffen teil. Anklagebehörde in diesem Verfahren ist die Bundesanwaltschaft mit bis zu fünf Vertretern im Gerichtssaal.

Angeklagt sind neben Beate Zschäpe vier Personen: André E. (33), Holger G. (38), Ralf W. (38) und Carsten S. (33). Die vollständige knapp 500 Seiten starke Anklageschrift ist bis zum Beginn der Verhandlung als Verschlußsache (VS-Nur für den Dienstgebrauch) eingestuft.

Laut Bundesanwaltschaft wird Zschäpe vorgeworfen, Gründungsmitglied der terroristischen Vereinigung NSU gewesen zu sein. Sie soll sich zudem als Mittäterin an der dem NSU zugeschriebenen Ermordung von neun ausländischen Gewerbetreibenden und einer Polizeibeamtin sowie an zwei Sprengstoffanschlägen in Köln beteiligt haben. Ferner soll sie Mittäterin bei 15 bewaffneten Raubüberfällen gewesen sein. Zur Last gelegt wird ihr auch, eine angeblich vom NSU genutzte Unterkunft in Zwickau in Brand gesetzt und sich dadurch eines Mordversuchs an einer Nachbarin und zwei Handwerkern sowie wegen besonders schwerer Brandstiftung strafbar gemacht zu haben. Ihr droht eine lebenslange Haftstrafe. Beate Zschäpe, die seit Anfang November 2011 in Untersuchungshaft sitzt, schweigt bislang zu allen Vorwürfen.

Die übrigen Angeklagten müssen sich unter anderem wegen Beihilfe zu neun Morden durch die Beschaffung der Tatwaffe beziehungsweise Unterstützung der terroristischen Vereinigung NSU verantworten.

Verteidigt werden die Angeklagten von insgesamt zwölf Anwälten. Die Hauptbeschuldigte Beate Zschäpe wird von Wolfgang Heer (Köln), Wolfgang Stahl (Koblenz) und Anja Sturm (Berlin) vertreten. Die nach derzeitigem Stand 71 Nebenkläger bieten 49 Rechtsanwälte auf. Schließlich ist in dem Gerichtssaal Platz für 50 akkreditierte Medienvertreter und etwa 60 Besucher. (tha)

Foto: Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt (v.l.n.r.): Lockere Urlaubsfotos mit Campingbekanntschaften – eher kein typisches Verhalten für Mitglieder einer geheimen Terrorzelle

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