© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Weiß und rosa
Redakteure und ihre Heimat: Für Hinrich Rohbohm ist die Obstblüte im Alten Land die schönste Jahreszeit / JF-Serie, Teil 14
Hinrich Rohbohm

Für einen Reporter, der viel unterwegs ist, ist sie wie ein vertrauter Hafen, in den man immer wieder einläuft. Heimat. Meine Heimat ist das Alte Land, größtes zusammenhängendes Obstanbaugebiet in Nordeuropa. Es befindet sich an der Elbe zwischen Hamburg und Stade.

Das Obst, zumeist Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Erdbeeren, Himbeeren und Johannisbeeren, ist prägend für die Region und bestimmt ihren Lebensrhythmus. So hat das Alte Land seine eigenen drei Jahreszeiten: Blütezeit, Erntezeit und die Winterzeit.

Vor allem die Blütezeit ist ein regelrechter Touristenmagnet. Die Kirschbäume entfalten dann ihre weiße Pracht, ehe sie einige Wochen später von der Schönheit der rosa schimmernden Apfelblüten abgelöst werden.

Diese Blüteperiode ist der schönste Jahresabschnitt. Auf den Deichen blöken nach langen naßkalten, aber meist milden Wintern wieder die Schafe. Und auf dem Deichkamm, dieser mit gut 8,50 Metern höchsten Erhebung des sonst unter dem Meeresspiegel liegenden Altländer Marschlandes, ist es ein Genuß, das Auge über die blühende Obstlandschaft schweifen zu lassen, während einem gleichzeitig die maritime Elbluft in die Nase steigt und die inzwischen durch den Frühling angewärmte steife Brise um die Ohren weht.

Vom Sommer an bis in den Herbst hinein beginnt nach der Blüte die zweite Altländer Jahreszeit: die Ernte. Ende Juni mit den Kirschen und Erdbeeren beginnend endet sie Anfang November mit den letzten Äpfeln und Birnen.

Die Bäume sind heute kleiner, das Ernten effektiver geworden. Vorbei sind die Zeiten der großen Hochstammgewächse, als Kirschen auf bis zu 50 Sprossen hohen Leitern in Holzkörben, den sogenannten Kiepen aus den Baumkronen gefischt wurden. Vorbei ist auch das Spreen hüten, womit das Verscheuchen der Stare mit Hilfe heulender und böllernder Schreckschußwaffen gemeint ist, die sich alljährlich im Sommer über die Kirschen hermachten. Heute haben die Obstbauern ihre Kirschplantagen mit Netzen überzogen.

Zur Apfelernte im Herbst regiert im Alten Land erneut Farbenpracht. Hinter roten, braunen und gelben Obstbaumblättern leuchten die reif gewordenen Früchte hervor, die von den Händen der zahlreichen Erntehelfer zunächst in die Pflückerschürze, dann in die Kisten wandern, ehe sie per Trecker ins Lager kommen.

Der Winter dagegen ist im Alten Land die Zeit der Stille. Nur gelegentlich unterbrochen, wenn die einst im zwölften Jahrhundert von holländischen Kolonisten angelegten Fleete, Wettern und Gräben zufrieren. Dann bindet sich manch einer die Schlittschuhe an, um mit den Kufen über die im ganzen Alten Land kanalähnlich angelegten vereisten Gewässer zu gleiten.

Doch auch wenn viele Gräben heute zugeschüttet sind und die urig-knorrigen alten Obstbäume wirtschaftlicheren gepflegten Kleinbaumplantagen gewichen sind: Der Charakter des Alten Landes mit seinen unverwechselbaren Fachwerkbauten, den Prunkpforten, den Mühlen und seinen Leuchttürmen ist erhalten geblieben. Und bleibt damit weiter vor allem eins: mein Heimathafen.

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