© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Ein heißer Mai
In Frankreich wächst die Wut auf die Regierung. Die Krise könnte auf ganz Europa überschwappen
Jürgen Liminski

So fangen Revolutionen an: Im März 1968 rumorte es an den Universitäten in Paris. Der Minister für Jugend und Sport, François Missoffe, traf sich mit einer Gruppe Studenten am Rande eines Schwimmbads, unter ihnen Daniel Cohn-Bendit. Die Unterredung wurde schnell sehr hitzig, und schließlich stieß der ungestüme Cohn-Bendit den Minister ins Schwimmbecken. Der lud eine Woche später die Gruppe zu sich ein, um weiterzudiskutieren. Im April berichtete er seinem Präsidenten de Gaulle, daß die Krawall-Bewegung ernst zu nehmen sei. Es war zu spät, de Gaulle hörte zwar auf ihn, zumal sich mittlerweile Gewerkschaften und Lehrerverbände angeschlossen hatten. Die Straße wurde auch gebändigt, die Ideen aber waren freigesetzt und fanden Anhänger in Deutschland und Europa, die Kulturrevolution der 68er nahm ihren Lauf.

Der Aufstand der Familien in Frankreich ist keine Krawall-Bewegung. Auch hier geht es um Lebensformen, Lebensstile, Bildung und Beziehungen, Heimat, Herkunft und Zukunft – um die Kultur des Lebens im weitesten Sinn. Und um die Verteidigung dieser Kultur gegen die Gleichheitswalze Brüssel. Deshalb greift der Aufstand auch auf weite Schichten des Volkes über. Seit dem 24. März und der Demonstration mit anderthalb Millionen Menschen ist die Straße in den Köpfen. Und es gibt radikale Gruppen, die sich nicht kontrollieren lassen. Für sie ist dieses Gesetz nur der Anlaß. Der Lauf hat begonnen, Europa steht vor Umwälzungen. Sie sehen je nach Land ganz anders aus. Während in Deutschland die Revolution gegen das Ancien régime in Brüssel geordnet in einem Parteigründungsverfahren abläuft (siehe Seite 5), gehen in Frankreich die Bürger auf die Straße. Es droht ein heißer Frühling. Bei den Aufmärschen kann es zu Gewaltszenen kommen, auch wenn die Organisatoren der Familienbewegung sich klar gegen Krawallos abgrenzen. Der Kulturkampf tobt in den Seelen und auf den Straßen, und es ist nicht absehbar, wie er verläuft.

Das alte Regime denkt und handelt noch nach dem überholten Links-Rechts-Schema der Parteien. Dabei unterstützen linke Persönlichkeiten wie Simone Veil und Lionel Jospin die Bewegung. Man wehrt sich gegen die Aufgabe der Souveränität und hat das Gefühl, daß auch die individuelle Identität in einem Brei von Beziehungslosigkeit ertränkt wird. „Père et Mère, c’est élémentaire“ (Vater und Mutter – Grundlage unseres Daseins) skandierten die Massen. Aber es gibt keinen François Missoffe, der dem Präsidenten sagt, daß man diese Bewegung ernst nehmen müsse. Und wenn es ihn gäbe, würde Hollande auf ihn hören?

Auch das Gefühl, es mit einem totalitär denkenden Regime zu tun zu haben, weitet sich aus. Beispiel: Die Regierung und die Präfektur von Paris sprachen von 300.000 Teilnehmern bei der Demonstration am 24. März. Luftaufnahmen aber zeigen die vier Kilometer lange breite Avenue de la Grande-Armée und die Seitenstraßen voller Menschen. Sachgerechte Schätzungen sprechen von 1,8 Millionen. Die Fotos wurden von Hubschraubern gemacht und von der Polizei auf Befehl „von oben“ unter Verschluß gehalten. Einige sickerten durch und zirkulieren derzeit im Internet. Elysee und Matignon waren genau informiert. Das ist Machart von Ideologen und Diktatoren. Das steigert die Wut im Volk.

Frankreich ist wieder zurückgeworfen auf die alte Rivalität zwischen Institutionen und Straße. In einer nur halbwegs so aufgebrachten Stimmung vor zehn Jahren meinte der damalige Premier de Villepin: „Wir haben es mit zwei Legitimitäten zu tun, einer institutionellen und einer sozialen.“ Er meinte die gewählte Regierung auf der einen Seite und die anhaltende Protestbewegung gegen soziale Reformen, die Straße eben, auf der anderen. Die Masse des Protests und seine Dauer haben auch heute eine neue Legitimität geschaffen. Schon jetzt kostet die Lähmung das Land Millionen, die Euro-Krise aber erfordert eine handlungsstarke Regierung und einen nationalen Konsens.

Aber statt nachzugeben und den Gesetzentwurf über die „Homo-Ehe“ vorerst ad acta zu legen und so eine Front zu beruhigen, bläst der Präsident noch in die Glut, indem er die Abstimmung über das Gesetz vorzieht, um weitere Großdemonstrationen zu unterlaufen. Auch die Offenlegung der Vermögensverhältnisse der Minister ist nur ein Ablenkungsmanöver, das die Franzosen lächelnd quittieren, wohl wissend, daß das nur Teilwahrheiten sind. Selbst wenn Hollande seinen Premier austauschte, das Image des Orientierungslosen und ideologisch Verbohrten ist nicht mehr zu löschen. Außerdem kündigte er Abstriche beim Kindergeld und eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer an. Und das zu einem Zeitpunkt, da die Kaufkraft sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt und Frankreich schon jetzt zu den Ländern mit den höchsten Staats- und Steuerquoten zählt. Dennoch steigt auch in der Linksfront der Wutpegel. Hollande hat eine kleine Arbeitsmarktreform durchgeboxt, die die Verbündeten zu Gegnern machte. Kurzum: So programmiert man Massendemonstrationen.

Hollande ignoriert den anrollenden Tsunami des Volkszorns. Er verdrängt, daß die Franzosen bereit sind, für ihre Souveränität, ihre Identität und Freiheit, die sie in Ehe und Familie als Fundament der Gesellschaft verkörpert sehen, aktiv zu demonstrieren. Noch könnte Hollande mit beherzten Maßnahmen – etwa einem Referendum – den Volkszorn einhegen. Sonst werden April und Mai im besten Fall Monate der Stagnation, die die wirtschaftliche Talfahrt beschleunigen. Und das dürfte auch die Euro-Krise verschärfen. Frankreich ist ein Trampelpfad der Geschichte. Alle wegweisenden Gesellschaftsbewegungen sind oft zuerst durch das Hexagon gestampft. Schon möglich, daß aus der Euro-Krise eine veritable EU-Krise erwächst. Sicher ist: Der Mai wird kommen und wahrscheinlich werden nicht nur die Bäume ausschlagen.

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