© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Immer wieder Farbe Rot
Sderot: Seit 2001 trafen über 14.000 Raketen den Süden Israels – eine Begegnungsreise durch eine Stadt in Angst
Thorsten Brückner

Nicht anschnallen!“ Reflexartig legt Koby seine Hand auf den Verschluß des Anschnallgurts. „Wir können uns hier nicht angurten“, erklärt der Sicherheitschef von Sderot. „Im Falle eines Luftalarms haben wir nur 15 Sekunden, um in den Bunker zu kommen, da reicht die Zeit nicht.“ Das Leben im Süden Israels ist von der alltäglichen Angst vor palästinensischen Raketenangriffen geprägt. An manchen heißen Tagen waren es über 20 Raketen, die auf die Stadt niedergingen. Seit 2001 wurden nach Armeeangaben über 14.000 Raketen vom Gaza-Streifen aus auf Südisrael abgeschossen.

Israels Reaktion darauf können ausländische Besucher Sderots mit einem Blick Richtung Mittelmeer bestaunen: Dort steht das Kraftwerk von Aschkelon, das rund 70 Prozent der Stromlieferungen an den Gaza-Streifen übernimmt – auf Kosten der israelischen Stromabnehmer, denen für die kostenlose Belieferung des Streifens eine Art Solidaritätszuschlag von drei Prozent auf ihre Stromrechnung aufgebürdet wird.

Wenige Staaten auf der Welt finanzieren die Leute, die ihre Bürger töten. In einer Mischung aus internationalem Druck und humanitärem Selbstanspruch tut Israel jedoch genau das. Auch die Materialien, aus denen die Kassam-Raketen gebaut werden, kommen aus Israel. Es sind Rohre, Drähte, Schrauben und Nägel. Alles Lieferungen Israels an palästinensische Krankenhäuser, Schulen und die Zivilbevölkerung, die von radikalen Gruppen zweckentfremdet werden. Seit 2007 kontrolliert die Hamas Gaza. Mittlerweile ist deren Hauptkonkurrent nicht einmal mehr die Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, sondern noch radikalere islamistische Gruppen, die teilweise Hamas vor sich hertreiben und immer wieder Eskalationen mit Israel provozieren.

Der Wagen mit Koby am Steuer bewegt sich zurück zum Ausgangspunkt der Tour, einer städtischen Spielhalle in einem heruntergekommenen Industriegebiet. Große aufblasbare Trampoline und Hüpfburgen lassen den unbedarften Besucher nur mit einer Frage zurück: Warum spielen die Kinder bei dem schönen mediterranen Wetter nicht draußen? Die Antwort gibt der Bürgermeister persönlich. David Buskila ist  seit 2008 erneut Oberhaupt der Stadt, deren äußerster Punkt weniger als 1.000 Meter vom Gaza-Streifen entfernt liegt. Die Spielhalle, erklärt er, wurde gebaut, um Hunderten Kindern der Stadt die Möglichkeit zu geben, in Sicherheit zu spielen. In Krisenzeiten, die in Sderot  in kurzen Abständen immer wiederkehren, lassen viele Eltern ihre Kinder aus Angst vor den Raketen nicht mehr zum Spielen ins Freie.

In das in dunklem Blau gehaltene Gebäude ist ein Bunker integriert, der von den Kindern in wenigen Sekunden zu erreichen ist. Die drei Schulen der Stadt sind sogar noch weiter. Sie sind bereits Bunkergebäude. Ertönt der grelle Ruf „Tzeva Adom“ (Farbe Rot), müssen sie nicht in Panik in die Schutzräume rennen, sondern können friedlich weiterlernen.

Zumindest demographisch hat sich die Stadt seit 2008 wieder erholt. Im Jahr 2008 flogen bis zur Operation „Cast Lead“ (Gegossenes Blei“) im Dezember über 3.000 Raketen auf den Süden Israels. Viele Bewohner verließen damals die Stadt, zogen in benachbarte Städte wie Aschdod oder Aschkelon, wo deutlich weniger Raketen einschlugen. Die Einwohnerzahl sank von 25.000 auf 17.000. Nach 2008 veränderte sich die Lage spürbar. „Die Menschen sind zurückgekehrt, weil sie gesehen haben, daß die Raketen nun auch weiter nördlich einschlagen, sie hier aber besser geschüzt sind“, sagt Buskila.

In der Tat hat die Stadt viel getan: Über 5.000 Bunker bieten den Bewohnern Schutz vor den immer größer werdenden Sprengköpfen der Kassam-Raketen. Dazu beschäftigt die Stadt viermal soviel Psychologen und dreimal mehr Sozialarbeiter als jede andere Stadt in Israel. Heute erreicht die Einwohnerzahl wieder das Niveau von 2001. Die Immobilienpreise steigen wieder. Der joviale Mitfünfziger Buskila erklärt seinen Gästen, in welchem Dilemma gerade kinderreiche Familien in seiner Stadt stecken. „Eltern mit drei kleinen Kindern sind in einer schlimmen Lage. Der Vater nimmt ein Kind mit in den Bunker, die Mutter das zweite. Das dritte Kind müssen sie dann zurücklassen.“

Zu den Folgen des Terrors gehören viele traumatisierte Kinder, die noch im fortgeschrittenen Alter einnässen oder unter Panikattacken leiden. Kinder, die irgendwann auch in die Armee kommen, an Checkpoints eingesetzt werden, in Kampfeinheiten dienen. Trotz der Situation haben sich die Menschen von Sderot ein erstaunliches Mitgefühl für die andere Seite bewahrt. „Ich wünschte, wir hätten gute Beziehungen zum Bürgermeister von Gaza“, sagt Buskila. Es seien nicht die Religion oder Land, die die Menschen auseinanderbrächten, sondern die radikalen palästinensischen Terrororganisationen.

 „Früher sind wir nach Gaza gegangen, hatten Freunde dort, wir haben sie besucht, sie haben uns besucht“, ergänzt Sicherheitschef Koby. Das alles habe sich jedoch seit den Oslo-Verträgen und der palästinensischen Selbstverwaltung geändert. Der 360 Kilometer große Streifen, in dem etwa 1,7 Millionen Palästinenser leben, gilt heute als das dichtbesiedeltste Gebiet der Erde. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Eine ideale Basis für radikale islamistische Gruppen.

Palästinensische Terrorgruppen sind es gewohnt, Nadelstiche zu setzen und auszureizen, wie lange Israel Geduld hat. Während des Besuchs von US-Präsident Obama Mitte März flogen erstmals seit der Operation Wolkensäule im November vergangenen Jahres wieder Raketen auf die Stadt. Als Israel am 9. April innehielt und der während der Shoa ermordeten Juden gedachte, schlugen die Terroristen erneut zu: So hielt der Ruf „Farbe Rot“ auch am Holocaust-Gedenktag die Erinnerung wach, wie bedroht die Existenz des jüdischen Volkes auch 68 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager noch ist.

Schließlich illustriert Koby auf einem Hügel außerhalb der Stadt bei beißend kaltem Wind seinen Besuchern noch die geostrategische Dimension des Konflikts. Der Gaza-Streifen ist von diesem Aussichtspunkt nur etwa 870 Meter entfernt. Trotz etwas diesigen Wetters sind die Hochhäuser von Gaza-Stadt klar zu erkennen, ebenso wie der Sicherheitszaun, den Israel im Jahr 2000 errichtet hat, um Infiltrationen palästinensischer Terroristen zu verhindern. Von hier sieht man jede aus Gaza abgefeuerte Rakete in ihrem Anflug auf Sderot. Eine Minute braucht diese, um vom Abschuß zu ihrem Zielpunkt zu gelangen. 45 Sekunden davon nimmt allein die Radarerkennung in Anspruch. Der Rest der Zeit verbleibt den Bewohnern, egal ob sie gerade unter der Dusche stehen oder sich auf der Toilette befinden, um sich in Sicherheit zu bringen.

Koby wirkt bedrückt: „Kein Volk liebt Krieg, aber wir müssen uns verteidigen. Sderot zeigt, daß es bei dieser Auseinandersetzung um unsere Existenz geht.“ Enttäuscht ist er vor allem von der oft allzu einseitig propalästinensischen Haltung des Westens. „In Syrien sterben jeden Tag Frauen und Kinder, die von einem grausamen Regime niedergemetzelt werden. Trotz aller Angriffe üben wir hier eine Zurückhaltung wie kein zweiter Staat auf der Welt, aber sämtliche Menschenrechtsorganisationen konzentrieren sich nur auf das in ihren Augen böse Israel. Und das, obwohl sich nach dem Abzug Israels 2005 kein einziger Siedler und kein einziger israelischer Soldat mehr im Gaza-Streifen befinden.“ Auf der anderen Seite, so Koby, herrsche eine Kultur des Todes. „Wir aber sind Teil der westlichen Kultur, wir halten nicht unsere toten Kinder in die Kamera wie die Palästinenser das tun“, fügt er an.

Mit einem kräftigen Handschlag verabschiedet er sich und fährt nach Hause, um noch rechtzeitig vor dem Beginn des Sabbats bei seiner Familie zu sein. Ein ruhiger Shabat-Abend war es für Koby nicht: Nur zwei Stunden nach unserem Besuch ertönt in Sderot erneut der Luftalarm: Immer wieder Farbe Rot!

 

Raketenbedrohung im Süden Israels

Flogen palästinensische Kassam-Raketen anfänglich nur bis zu 5 km weit, erreicht die dritte Ausbaustufe mittlerweile eine Reichweite von bis zu 20 km und kann so neben Sderot auch die Industriestadt Aschkelon treffen. Die Hamas verfügt zudem über iranische Grad-Raketen mit einer Reíchweite von bis zu 50 km und einige Fadschr-5-Raketen, ebenfalls iranischer Bauart, die mit einer Reichweite von bis zu 80 km auch Tel Aviv und Jerusalem treffen können, wie dies während der Operation Wolkensäule im November 2012 geschah. Gerade Grad-Raketen werden meist über Tunnel von der Sinai-Halbinsel nach Gaza gebracht. Seit 2001 flogen nach israelischen Angaben über 14.000 Raketen auf den Süden Israels. Aufgrund stetig verbesserter Sicherheitsmaßnahmen starben dabei aber nur rund 50 Israelis. Israel hat den Gaza-Streifen im Jahr 2005 geräumt. 2007 putschte sich die Hamas an die Macht, konnte jedoch bis heute nie die völlige Kontrolle über den Streifen erringen.

Foto: Raketentrümmer in der Polizeistation von Sderot, zu Bunkern ausgebaute Bushaltestelle (oben): 15 Sekunden bleiben, um sich in Sicherheit zu bringen

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