© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Bekenntnis auf der Haut
Das Abendland geht nicht am Arschgeweih zugrunde: Immer mehr Menschen tragen Tätowierungen
Baal Müller

An Bettina Wulff gab es manches auszusetzen, aber daß konservative Kreise ihre Tätowierung als unpassend für eine „First Lady“ beanstandeten, scheint so, als wollten sie unbedingt ihrem Klischee, spießig und altbacken zu sein, gerecht werden. In einer Gesellschaft, in der ein Viertel der unter Vierzigjährigen tätowiert ist, sind die Voraussetzungen, in einem kleinen Schultertattoo ein Politikum zu sehen, nicht mehr gegeben.

Dies heißt nicht, daß man dem Zeitgeist nachlaufen, sondern nur, daß man jede Veränderung auf ihre Bedeutungen und Auswirkungen hin prüfen soll. Das Abendland geht nicht am Arschgeweih zugrunde. Schaden richten Tätowierungen in erster Linie nur bei denjenigen an, die irgendwann ihrer schablonenhaften Herzchen, Sternchen, Blümchen und Schmetterlinge überdrüssig geworden sind – aber es gibt ja auch originellere Motive. Woher die konservative Kritik am Tattoo?

Fabian Grummes hat kürzlich in der libertären Zeitschrift eigentümlich frei drei Kritikpunkte benannt: Hinter der Tattoo-Mode sieht er erstens einen „verzweifelten Schrei“ des Massenmenschen nach Individualität, zweitens ein „mangelndes Verständnis unserer Alltagswelt“, insofern fremde, aus ihren kulturellen Kontexten abgelöste Motive aufgegriffen werden, und drittens einen „Verlust der Langzeitperspektive“, da man die Veränderungen durch den Alterungsprozeß nicht bedenke.

Der erste Punkt ist sicher richtig – wer nur noch Nummer ist, möchte Bild werden, philosophisch formuliert –, aber er könnte gegen jede modische und ästhetische Extravaganz angeführt werden. Und warum sollte man eigentlich nicht versuchen, seine Individualität – auch äußerlich – (sofern man eine hat) zu artikulieren? Der zweite Kritikpunkt gilt für jede Art von Multikulti-Potpourri, aber es müssen ja keine chinesischen Schriftzeichen, es dürfen auch heimische Symbole verwendet werden. Und das dritte Argument könnte man auch in sein Gegenteil verkehren: Gerade weil sich jemand für eine Modifikation seines Körpers entscheidet, die nicht leicht wieder rückgängig zu machen ist, nimmt er eine Langzeitperspektive ein.

Am Ende seines Artikels fragt sich Fabian Grummes mit etwas bemühter Selbstironie, ob er nicht doch „einfach nur ein konservativer Spießer“ sei, aber man möchte ihm den scheinbaren Konservatismus doch nicht ganz abnehmen. Ein wenig wirkt seine bläßliche Kritik selbst wie ein Tattoo, dessen ursprüngliche Farbe verblichen ist. Das eigentliche konservative Unbehagen an der Tätowierung ist tiefer eingestochen: Es beruht auf Moral und Religion.

Bekanntlich waren in früheren Zeiten fast nur Kriminelle oder Angehörige bestimmter Berufszweige – Seeleute, Prostituierte oder Schausteller auf Jahrmärkten –, später auch Angehörige diverser Jugend- und Subkulturen, tätowiert, die damit eine spezifische, oft männerbündische Gruppenidentität zum Ausdruck brachten; erst seit den neunziger Jahren wurde das Tattoo zum Mainstream-Accessoire, mit dem man teils Zugehörigkeit (zu einer „modischen Avantgarde“), teils Besonderheit („ein persönliches Symbol“) darstellen wollte.

Der sowohl abschreckende als auch verlockende Outlaw-Nimbus des Verbotenen, Verruchten und Verwegenen korrespondiert seit der (Wieder-)Begegnung des Europäers mit tätowierten „Wilden“ in der Zeit der Seefahrer und Entdecker mit der exotistischen Differenz von Nähe und Ferne, von „Eurozentrismus“ und Geringschätzung der „Primitiven“, aber auch mit der Begeisterung für alles Fremdartige und dessen romantischer Verklärung.

Bereits durch die spanischen Expeditionsreisen im Südpazifik um 1600 waren Seeleute tätowierten Eingeborenen begegnet, aber allgemein bekannt wurde das Phänomen in Europa erst durch die Aufzeichnungen James Cooks, der in seinem „Exploration travel on the brig of Her Majesty“ von 1771 den Begriff „Tatau“ („Zeichen“ in der Sprache der Ureinwohner Tahitis) in den europäischen Sprachgebrauch einführte. In den folgenden Jahrzehnten wurde es üblich, tätowierte „Wilde“ öffentlich auszustellen; parallel dazu wurde der exotische Brauch bei Gegnern der traditionellen Ordnung beliebt: Besonders bemerkenswert ist das Beispiel des französischen Revolutionärs, Kriegsministers und späteren Königs von Schweden und Norwegen Jean-Baptiste Bernadotte, der sich neben seinen Initialen, seinem Geburtsdatum, einer Jakobinermütze, den Schlagworten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und „Tod dem König“ auch einen Schädel mit gekreuzten Knochen und ein Hakenkreuz tätowieren ließ.

Der Drang, ein weltanschauliches Bekenntnis auf der Haut zu tragen, verweist auf die religiösen Ursprünge. Auch diese sind in Europa ambivalent: Auf der einen Seite steht das alttestamentliche Gebot, keine Einschnitte am Körper zu machen und keine Zeichen einzuritzen (Lev. 3. und Moses 19, 28), auf der anderen die Vermutung, daß Paulus mit den Zeichen Jesu (Galater 6, 17) tätowiert gewesen sei. Nicht selten haben frühe Christen, solange sie im Römischen Reich eine verfolgte Minderheit darstellten, aber auch Christen in mehrheitlich moslemischen Ländern sowie christliche Sektierer oder Mystiker des Mittelalters, ihren Glauben durch Tätowierungen zum Ausdruck gebracht.

Dennoch hat Papst Hadrian I. im Jahre 787 diese als heidnischen Brauch verboten, womit er einerseits deren Verbreitung im noch halb heidnischen Europa seiner Zeit belegte und andererseits eine neue Ordnung von Mehrheit, Macht und Moral etablierte: in der „Zivilisation“ hat man untätowiert zu sein. Tatsächlich begann hier aber nur ein – im Judentum vorgezeichneter –  mittelalterlich-europäischer Sonderweg, und die frühneuzeitliche Begegnung mit den tätowierten „Wilden“ war auch eine Wiederbegegnung mit den eigenen, verschütteten Wurzeln der alteuropäischen Stammesgesellschaften.

Es mag etwas gewagt klingen, aber vielleicht verweist die heutige, oberflächliche Tattoo-Mode auf ein neues tribales Zeitalter? Schließlich könnte es sein, daß biologische oder bündische Gruppenidentitäten nach einem Kollabieren der „multikulturellen“ Gesellschaft neue Aktualität gewinnen.

Foto: Tätowierungen: Bereits ein Viertel der unter Vierzigjährigen sollen Hautverzierungen tragen

Tattoo-Messen finden bundesweit praktisch das ganze Jahr über statt, die nächsten vom 3. bis 5. Mai in der Münchner TonHalle am Ostbahnhof sowie am 4./5. Mai in der Messehalle Magdeburg.

 www.munichtattoo.de

 www.tattoo-expo-md.de

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