© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Der Blick ins Tal
Redakteure und ihre Heimat: Der Südbadner Felix Krautkrämer vermißt die Berge / JF-Serie, Teil 15
Felix Krautkrämer

Wir waren laut, wir waren wild – und wir waren viele. In der kleinen Neubausiedlung am Rande Freiburgs, im Dreisamtal zwischen den Bergen des Südschwarzwalds, gab es immer jemanden zum Spielen. Egal zu welcher Jahreszeit und egal, bei welchem Wetter. Wir streiften durch den nahe gelegenen Wald, waren mal Räuber, mal Ritter, mal Entdecker, tummelten uns im Freibad oder sprangen in den kleinen Bach, der hinter unseren Häusern floß.

Die große Wiese auf der anderen Seite der Straße war der ideale Bolzplatz, und wenn der Bauer diese zum Leidwesen unserer Mütter, die gerade die Wäsche im Garten rausgehängt hatten, mit Gülle düngte, wurde das Spiel einfach auf die Straße zwischen den Garageneinfahrten verlegt. Wir bildeten Banden, prügelten und vertrugen uns wieder, und das Gefühl aufgeschürfter Knie gehörte zum Sommer wie der warme Asphalt unter den nackten Füßen und die Glocke des Eiswagens, der – nachdem man von der Mutter 50 Pfennig erbettelt hatte – freudig von uns am Spielplatz begrüßt wurde. Im Winter rodelten wir die Abhänge herunter, bauten Iglus und lieferten uns ausartende Schneeballschlachten. Gedanken, diese Zeit könnte irgendwann enden, waren uns ebenso fremd wie die Sorgen vor der Zukunft. An diese dachten wir nicht. Wir lebten im Jetzt. Eine Stunde fühlte sich damals so viel länger an und Weihnachten wirkte selbst am vierten Advent noch unendlich weit entfernt.

Als wir älter wurden, wanderten wir auf die umliegenden Berge: Roßkopf, Kybfelsen, Hinterwaldskopf, Schauinsland und – sie alle überragend – den Feldberg. Das Gefühl beim Anblick auf die unten im Tal liegende Heimat verband uns, mit manchem der damaligen Freunde bis heute.

Und dennoch: Wenn ich mittlerweile nach Freiburg komme, ist dies keine Heimkehr mehr. Vertrautheit? Ja, verknüpft mit der Sehnsucht nach einer so viel unbeschwerteren Zeit – es ist die Gegend meiner Kindheit, und die Erinnerungen an diese sind untrennbar mit ihr verbunden. Doch das Gefühl, nach Hause zu kommen, will sich nicht mehr einstellen. Vieles hat sich verändert, am meisten man selbst, und manches ist trotz aller Vertrautheit fremd geworden.

Heimat ist für mich nicht mehr an einen einzelnen, festen Ort gebunden. Ich finde sie heute in den unterschiedlichsten Situationen und an verschiedensten Stellen. Sie kann sich ganz plötzlich und unerwartet in einer sächsischen Dorfgaststädte zeigen, oder bei einem Spaziergang im Berliner Südosten, bei einem Roman von Hans Fallada, ebenso bei einem Grillabend mit Freunden. Bei einer Wanderung durch die Feldberger Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns oder beim Biß in ein frisches Hackepeterbrötchen und dem ersten Schluck des dazugehörenden Biers. Beim Blick ins Fotoalbum, einem Lauf durch den Wald früh am morgen, oder dem Geruch des Kaiserstühler Bodens in der Spätsommersonne.

Heimat läßt sich nicht in Worte fassen, sie ist das sichere Gefühl, an den richtigen Ort gestellt worden zu sein, Teil von etwas zu sein, das einem vertraut ist und das Wissen darum. Sich nicht fremd zu fühlen und die Sicherheit, die sich daraus ergibt.

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