© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Wenn Ideologie den Blick versperrt
Raumordnungen: Die Historikerin Ulrike Jureit kann die Erwartungen nur teilweise erfüllen
Thorsten Hinz

Der Geopolitiker beschreibt den Zusammenhang zwischen geographischer und politischer Lage und formuliert die Interessen und Handlungsoptionen, die sich daraus ergeben. Geopolitik ist in der Bundesrepublik für Wissenschaftler und Politiker weitgehendes Niemandsland. Ulrike Jureit, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung (Reemtsma-Institut), beschreitet es von einem Nebenpfad. Sie referiert und analysiert räumliche Ordnungskonzepte, die in Deutschland entworfen wurden. Ihr ist bewußt, daß die Gestaltung des konkreten Raums und seine geographische Verortung in der Welt sich nicht voneinander trennen lassen. Kann sie die beiden Aspekte im Gleichgewicht halten?

Anfangs ja. Souverän skizziert sie die Entwicklung der europäischen Raumvorstellung bis ins 19. Jahrhundert. Eine von Grenzen umgebene staatliche Hoheit wurde zum Ideal der politischen Territorialität. Das Staatsterritorium sollte ein geschlossenes Gebiet umfassen, auf dem sich der Nationalstaat konstituierte.

Dieses Konzept übertrugen die Europäer auf ihre Kolonien. Sie wurden als „leere“ Räume wahrgenommen, bewohnt zwar, aber unbeschrieben und unstrukturiert. Ihre Beschlagnahme und Abgrenzung nahm keinerlei Rücksicht auf gewachsene Strukturen, Massaker  unter den ansässigen Bewohnern waren keine Seltenheit. Das Vorgehen der deutschen Schutztruppen gegen die Hereros im heutigen Namibia lag in der europäischen Norm und war kein, wie Historiker heute behaupten, deutscher Sonderweg, der im NS-Staat enden mußte.

Im Ersten Weltkrieg konstatiert Jureit eine Radikalisierung. Die Militärverwaltung Oberost, der baltische und weißrussische Gebiete unterstanden, habe koloniale Praktiken und Planungen auf die osteuropäischen Gebiete übertragen. Den Grund sieht sie im deutschen „Griff nach der Weltmacht“. Deutschland sei als „eine vor imperialen Machtansprüchen nahezu überschäumende Großmacht“ in den Krieg gezogen. Das ist ein längst widerlegter Unfug! Um die Praxis in den eroberten Gebieten zu bewerten, muß man die materielle Unterlegenheit der Mittelmächte gegenüber der Entente in Rechnung stellen, die ihre Ressourcen aus den Tiefen des globalen Raums schöpfen konnte. Die Ideologie und der konkrete Raum versperren der Autorin hier den Blick für die Realgeschichte und die geopolitische Lage.

Informativ und spannend sind wieder die Passagen, in denen sie die Auseinandersetzungen um die Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen ab 1918/19 darstellt. Die polnischen Begehrlichkeiten auf Ost- und Westpreußen sowie Oberschlesien trafen die Deutschen unerwartet. Die Polen waren in Versailles weit besser mit Karten- und statistischem Material ausgestattet als die deutschen Abgesandten. Jureit konzediert, daß der Versailler Vertrag die politische Radikalisierung in Deutschland beförderte. Ihre Begründung allerdings klingt eigenartig: Statt mit der Situation rational umzugehen, hätten die raumpolitisch desorientierten Deutschen sich in die paranoide Vorstellung einer „biologischen Selbstgefährdung“, in eine wahnhafte „Massenklaustrophobie“ und Losungen wie „Volk ohne Raum“ geflüchtet.

Jureit ignoriert die alliierte Hungerblockade, die über das Kriegsende hinaus fortgesetzt und zu Hunderttausenden Toten und massenweisen Erbschäden geführt hatte. Es war unmöglich gewesen, die fehlenden Nahrungsmittelimporte durch eigene Produktion auszugleichen. In dieser Situation mußte der Verlust landwirtschaftlich genutzten Bodens als existentielles Problem erscheinen.

Hinzu kamen der Entzug der Souveränitätsrechte in den linksrheinischen Gebieten, die Unterstützung separatistischer Kräfte durch Frankreich, die Internationalisierung der Wasserstraßen, die Vertreibungen aus den abgetrennten Gebieten, die Ruhrbesetzung 1923, die in Hyperinflation und Massenverarmung mündete usw. Das alles konnte zu dem Eindruck führen, daß das Existenzrecht Deutschlands unter die Räder fremder geopolitischer Planungen geriet.

Daran knüpften die Nationalsozialisten an, als sie die „Biologisierung“ des Raums, die proklamierte Einheit von „Blut und Boden“, forcierten. So erklärte Hitler im Sommer 1939 gegenüber dem Völkerbundkommissar Carl Jacob Burckhardt: „Des Getreides wegen brauche ich den Raum im Osten, des Holzes wegen brauche ich eine Kolonie, nur eine.“ Zwar sei 1938 die Ernte ausgezeichnet gewesen, „aber eines Tages wird der Boden genug haben und streiken wie ein Körper, der gedopt wird. Was dann? Ich kann nicht hinnehmen, daß mein Volk Hunger leidet. (...) Wir wissen, wie es ist, an Hunger zu sterben ...“ Das unterschlägt die Autorin zugunsten ihres Ideologieansatzes.

Die Kapitel über die Raumplanungen im Dritten Reich sind daher enttäuschend konventionell. Carl Schmitt wird fälschlich als „juristischer Sinnstifter des NS-Staates“ eingeführt und seine Großraum-Theorie zum deutschen „Hegemonialkonzept“ verzerrt, welches den „untergeordneten Einheiten das Recht und die Fähigkeit“ zu moderner Staatlichkeit absprach.

In Wahrheit hat Schmitt nach einer europäischen Antwort auf die umfassende, heute „Globalisisierung“ genannte „Raumrevolution“ gesucht, die aktuell vom britischen Empire, den USA und Rußland ausging. Er fand sie im europäischen Großraum, in dem Deutschland die Führungsrolle im Sinne eines freundlichen Hegemons zufiel.

Ulrike Jureit hat ein großes Thema angepackt und Interessantes zutage gefördert. Doch ist es ihr nicht gelungen, die deutschen Raumvorstellungen und Raumplanungen in einen globalen Kontext zu stellen. Die großen Erwartungen, die ihr Buch zunächst weckt, werden nur ansatzweise eingelöst.

Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2012, 444 Seiten, 38 Euro

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