© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Die Buchdruckerkunst als Artillerie des Denkens
Gegenaufklärer: Antoine de Rivarols Betrachtungen über den Menschen überzeugen noch nach über zwei Jahrhunderten
Felix Dirsch

Zu den häufig vergessenen Traditionslinien des Konservatismus zählt die lange Traditionslinie der Moralistik. Ein überaus kundiger Vertreter der bewahrenden Richtung des politischen Denkens, der vor einigen Jahren verstorbene Publizist Caspar von Schrenck-Notzing, wählte nicht von ungefähr einen Titel des spanischen Schriftstellers Baltasar Gracián als Markennamen für sein Periodikum: Criticón.

Nun existierte nicht nur eine spanische Moralistik, sondern gleichfalls eine französische. Ihr gehörte einer der konsequentesten Gegner der Französischen Revolution an : Antoine de Rivarol (1753–1801). Mit anderen großen Kritikern von 1789, etwa de Maistre, mußte er das Schicksal der Emigration teilen. Anders als dieser entwarf er aber keine gegenrevolutionäre Doktrin, sondern war gegen sämtliche ausladenden Theoreme ablehnend eingestellt. Sie alle unterliegen seiner Ansicht nach der Gefahr des Mißbrauchs und ähneln letztlich den Vorstellungen seiner politischen Gegner.

Rivarols Widerstreben gegen jedwede Art großer Erzählungen macht die Ausführungen überraschend aktuell. Während nicht nur viele revolutionäre Lehren aus dem vorvergangenen Jahrhundert, sondern auch diverse Antworten darauf seitens sogenannter Reaktionäre heute überholt sind, behalten die scharfzüngigen Maximen, Portraits und Bonmots aus der Feder des „vergessenen Skeptikers“ (Johannes Willms) auch in der unmittelbaren Gegenwart ihre Bedeutung.

Die geistreichen Reflexionen wurden schriftlich auf Zetteln festgehalten und – getrennt nach den Bereichen Mitmenschen, Gott, Tiere, Politik, Kunst und die Deutschen – in verschiedenen Beuteln gesammelt. Nachdem diese Gedanken keinen konsistenten Entwurf darstellen sollen, sind sie nur schwer in zusammenfassender Form wiederzugeben. Wie die Aphorismen des um ein knappes Jahrhundert jüngeren Friedrich Nietzsche wollen sie – nicht zuletzt durch Widersprüche – wachrütteln und provozieren.

Rivarol liest sich wie ein Antidotum zu den unzähligen Versuchen der Menschen vor allem in der Neuzeit, sich nicht nur zu „Herren und Meistern der Natur“ (Descartes) aufzuschwingen, sondern durch ihr faustisches Wissen und Können das Paradies auf Erden zu errichten. Viele Beobachtungen aus zahlreichen Lebensbereichen ergeben ein Mosaik der Begrenzungen des Menschen. Er kann sich sein Wesen, seine Natur nicht aussuchen, die ihm vorgegeben ist.

Fast jede Zeile aus Rivarols Betrachtungen desillusioniert. So autonom, wie alle tun, sind wir gar nicht. Warum? Schließlich sind wir selbst, so der in der letzten Phase seines Lebens zum Gesandten Ludwigs XVIII. in Berlin ernannte Autor, ebenso wie die Tiere und Pflanzen nur „Werkstätten, in denen die Natur für ein uns unbekanntes großes Ziel arbeitet“. Gegen die tendenziell metaphysikfeindliche Moderne schreibt der Meisterkritiker: „Metaphysik ist der scharfsinnigste Gebrauch des menschlichen Geistes, jenes von der Natur gegebenen inneren Blicks, jener inneren Sicht, die auf die theoretische Seite aller Künste und alles Existierenden angewandt wird.“

Bringt wenigstens die Zivilisation, von der alle träumen, das Heil? Nichts ist unrealistischer als das. Als hätte er das heute viel zitierte Wort vom „Zivilisationsbruch“ erahnt, schreibt er den Fortschrittseuphorikern ins Stammbuch: „Trotz aller Bemühungen eines philosophischen Jahrhunderts werden die zivilisiertesten Reiche immer der Barbarei ebenso nahe sein wie das am sorgfältigsten polierte Eisen dem Rost. Nationen wie Metalle glänzen nur an der Oberfläche.“ Ebenso schätzt er seine Zukunftsaussichten angesichts seiner eigenen endlichen Konstitution als bescheiden ein: „Ich nähere mich den Fünfzigern, und in wenigen Jahren bin ich in diesem Alter, wo im Menschen vor dem Tod alles abstirbt.“

Läßt man nach über zwei Jahrhunderten die Lebensklugheiten des so einleuchtend argumentierenden Gegenaufklärers Revue passieren, kommt man zu einer Schlußfolgerung, die Ernst Jünger, Rivarols Bruder im Geiste, bereits vor über einem halben Jahrhundert gezogen hat. Sein Ansinnen war es demnach, das „Immergültige aus der historischen Masse zu befreien, so wie man das reine Erz aus den Gesteinen schmilzt“ (Jünger). Nicht zuletzt eine solche Vorgehensweise läßt ihn, den Frühverstorbenen, zu den Unsterblichen unter den Gegnern von 1789 werden. Mit dem Vorliegen der neuen Auswahl aus seinem umfangreichen Werk kann die längst überfällige Neuaneignung endlich beginnen.

Antoine de Rivarol: Vom Menschen. Gedanken und Maximen. Portraits und Bonmots. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann. Matthes & Seitz, Berlin 2012, gebunden, 498 Seiten, 39,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen