© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Fukushima unter Wasser
Atomarer Müll wird weiterhin in den Weltmeeren entsorgt / Tickende Zeitbomben aus dem Kalten Krieg
Christian Dorn

Feste Jungs, macht nur weiter so, ihr bekommt schon alles kaputt. / Leitet alles Gift ins Meer, Dreck und Sch… hinterher. / Macht den Ozean zum Klo. Öl schwimmt da schon sowieso / Gehn die Fische dabei drauf, was liegt schon viel daran?“ Die so sarkastischen wie legendären Textzeilen des niederländischen Liedermachers Robert Long sind dreieinhalb Jahrzehnte alt, aber leider noch immer brandaktuell.

Besonders gilt das für die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Egal, ob man die Kernenergie ablehnt oder für unverzichtbar hält, die ungeklärte Frage nach dem Verbleib des Atommülls steht zu Recht auf der Tagesordnung. Eindrucksvoll aufmerksam macht hierauf kommende Woche der Arte-Themenabend „Endlager Meeresgrund“ (23. April). In der Dokumentation „Versenkt und vergessen – Atommüll vor Europas Küsten“ der Autoren Thomas Reutter und Manfred Ladwig wird die „tickende Zeitbombe“ vor Europas Küsten thematisiert.

Der Meeresgrund im Nordostatlantik ist demnach ein „atomares Endlager“. Bis 1982 versenkten neun europäische Staaten dort ihre radioaktiven Abfälle. Laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) wurden insgesamt 17.244 Tonnen (etwa 28.500 Fässer) mit schwachradioaktiven Abfällen in den Unterwassergraben Hurd Deep nordöstlich der britischen Kanalinsel Alderney versenkt, wo zudem zahlreiche Weltkriegsmunition liege. Anders als damals angenommen, sind etliche Fässer noch nicht weggerostet. Die Radioaktivität, so die einstige Planung, sollte sich auf diese Weise peu à peu im Meer zu einer unschädlichen Konzentration verdünnen.

Da die Mannschaften der Verklappungsschiffe einst ohne jede Schutzkleidung unterwegs waren, löschten diese ihre unheimliche Fracht auch an anderen als den vorgesehenen Versenkungsstellen, wenn die radioaktive Strahlung auf dem Schiff vorzeitig den Grenzwert erreicht hatte. Nicht zuletzt deshalb sei heute unklar, wie viele Fässer wo verklappt wurden. Wenngleich die Versenkung atomarer Abfälle im Meer seit zwanzig Jahren weltweit verboten ist, wird in Europa – in der Wiederaufbereitungsanlage La Hague (Normandie) und Sellafield (Nordwestengland) – weiterhin über Abflußrohre Atommüll in verflüssigter Form ins Meer geleitet – mit weitreichenden, aber zunächst unsichtbaren Folgen.

So stammt verseuchtes Seegras in Wilhelmshaven offenbar aus La Hague, dessen radioaktive Belastung zeige, daß die Strahlenwerte des eingeleiteten Atommülls deutlich höher sind als offiziell angegeben. In Sellafield wiederum, dessen Strand als einer der saubersten Englands gilt, wurden erhöhte Plutoniumwerte festgestellt, die an manchen Stellen zehnmal höher seien als zulässig. Deshalb, so Mediziner, liege die Leukä­mierate um Sellafield auch zehnmal höher als im Landesdurchschnitt.

Ungleich dramatischer ist die dokumentierte Situation im „Atomfriedhof Arktis“ von Arte-Autor Thomas Reutter. In der Arktischen See, dem weltweit wichtigsten Fanggebiet für Kabeljau, lauern auf dem Meeresboden drei versunkene sowjetische Atom-U-Boote, die teils auch mit Atomsprengköpfen bestückt sind: Die K-278 „Komsomolez“ sank 1989 vor der Küste Norwegens, mit einem Reaktor, der eineinhalb Tonnen hochangereichertes Uran enthielt, und zwei nuklearbestückte Torpedos. Jährlich entweichen aus diesem Wrack 6,3 Milliarden Becquerel Cäsium ins Meer – der Grenzwert für einen Liter Trinkwasser in der EU liegt bei zehn Becquerel.

Überdies lagern in der Arktischen See 17.000 Container mit Atommüll, 19 Frachter mit radioaktiven Abfällen und 14 Atomreaktoren. Bis 1992 hatte Rußland seinen atomaren Müll regulär in der Arktischen See entsorgt. Auch die marode Nordmeerflotte samt eines alten Atom-U-Bootes wurde hier versenkt. Im Fall des 1982 nach einem schweren Reaktorunfall versenkten Atom-U-Boots K 27 droht – laut einem unter Verschluß gehaltenen Bericht des russischen Umweltministeriums – mit „hoher Wahrscheinlichkeit eine unkontrollierte Kernreaktion“. Es sei daher nur mehr eine Frage der Zeit, bis aggressives Salzwasser in die heiße Zone der Reaktoren eindringt und die befürchtete „nukleare Kettenreaktion“ auslöst. Das, so Fernsehautor Reutter, „wäre eine Art Fukushima unter Wasser“.

Daher empfiehlt der geheimgehaltene Bericht, zwei der drei Atom-U-Boote bis spätestens 2014 zu bergen – ein Unternehmen, das ebenfalls riskant wäre. Zwar hat das auf die Entsorgung spezialisierte Unternehmen Malachit bereits 2004 der russischen Regierung Pläne zur Bergung der Atom-U-Boote unterbreitet, doch bis heute keinen Auftrag erhalten, dessen Kosten – so die Prognose – sich auf jeweils etwas 62 Millionen Euro belaufen würden. Doch selbst wenn die russische Regierung jetzt den Auftrag zur Bergung erteile, so Wladimir Dorofejew, Generaldirektor von Malachit, könnte mit der Bergung frühestens 2015 begonnen werden.

Daß Bergungen nicht unmöglich sind, zeigt das Beispiel des 18.000 Tonnen schweren, im Jahr 2000 gesunkenen Atom-U-Boots K-141 „Kursk“, das aus etwa hundert Metern Tiefe gehoben wurde und dessen beide Kernreaktoren „sicher an Land entsorgt“ wurden. Diese „Sicherheit“ – das zeigt hierzulande das aktuelle Beispiel Gorleben – ist aber auch alles andere als sicher.

Sämtliche Arte-Sendungen finden sich für sieben Tage nach ihrem Sendetermin als Videos und für den TV-Abruf im Internet: videos.arte.tv

Unterwasserfoto von Atommüllfaß vor der französischen Kanalküste: In der Arktischen See, dem weltweit wichtigsten Fanggebiet für Kabeljau, lauern noch größere Gefahren durch militärische Altlasten

 

Arte-Woche „Die Zukunft beginnt jetzt“

Der Auftakt einer Arte-Themenwoche zu Natur und Umwelt steht unter dem Motto „Die Zukunft beginnt jetzt“ (21. bis 26. April). Den Anfang macht der Dokumentarfilm „Naturopolis – New York, die grüne Revolution“ (21. April, 20.15 Uhr), der die Zunahme von Tieren und Pflanzen im Naturraum Stadt illustriert. Im Anschluß an den Themenabend „Endlager Meeresgrund“ (23. April, 20.15 Uhr) beleuchtet der Film „Trockengelegt – Konfliktherd Totes Meer“ (21.35 Uhr) das ökologisch brisanteste Problem des Nahen Ostens: die Wasserknappheit. Der Bericht „Kaufen für die Müllhalde“ (25. April, 14 Uhr) dechiffriert den Konsum unter dem Blickwinkel der „geplanten Obsoleszenz“: der von der Industrie beabsichtigten eingeschränkten Lebensdauer ihrer Produkte. Thematisch ergänzt wird dies im Beitrag „Geht´s auch ohne Müll?“ im Wissensmagazin „X:enius“ (23. April, 8 und 16 Uhr). Über das moralische Dilemma der DNA-Entschlüsselung berichtet die US-Dokumentation „Gencode geknackt – Segen oder Fluch?“ (25. April, 22.15 Uhr). Der Film „Jagdzeit“ (26. April, 14.30 Uhr) ist schließlich den Walfängern auf der Spur.

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