© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Der unbotmäßige Reformer
Ungarn: Viktor Orbáns Patriotismus verstößt gegen den Zeitgeist und alles, was als politisch korrekt gilt
Reinhard Liesing

Vorige Woche ging es wieder hoch her im EU-Parlament. Redner der linken und liberalen Fraktionen sorgten sich um europäische Grundwerte, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte. Nein, es ging nicht um die Euro-Rettungsmaßnahmen oder die Zustände in Bulgarien, Griechenland und Rumänien. Es ging um Ungarn, das einer der beliebtesten Auslandsstandorte deutscher Industrieunternehmen ist, und das trotz Wirtschaftskrise – anders als die Mehrheit der EU-Staaten – nicht über seine Verhältnisse lebt, sondern mehr exportiert, als es importiert. Das aber auch gleichzeitig versucht, eigene nationalen Interessen gegen die internationaler Finanz-, Handels- oder Medienkonzerne durchzusetzen.

Seit vor drei Jahren in Ungarn eine nationalkonservative Regierung ins Amt gewählt wurde, weht ein kalter Wind aus Brüssel gen Budapest – und er wird immer schärfer. Mit der Rückkehr Viktor Orbáns an die ungarische Regierungsspitze endete eine sozialistisch-linksliberale Herrschaft, die erstmals zwei Legislaturperioden währte. In den Jahren von 2002 bis 2010 war das Land abgestürzt: die Staatsverschuldung stieg von 53 (2002) auf 82 Prozent (2012) des Bruttoinlandsprodukts (BIP). So sah das Erbe aus, das Orbán übernahm.

Vom Wähler mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit seines aus dem Bund Junger Demokraten (Fidesz) und Christdemokraten (KDNP) bestehenden Parteienbündnisses im Parlament ausgestattet, bedient sich der 49jährige Premier und fünffache Familienvater, der in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) aufwuchs, gelegentlich eher unkonventioneller Mittel, um postkommunistisch-oligarchische Erbhöfe aufzubrechen. Wegen seiner mitunter dabei rücksichtslosen Vorgehensweise werden ihm diktatorische Züge angedichtet – doch Orbán ist seit elf Jahren einer der Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU oder die ÖVP gehören.

Vor allem ist Orbán ein ungarischer Patriot, kein „netter Junge“, wie er kürzlich in einem Interview mit deutschen Tageszeitungen betonte: „Ich würde mich sehr schämen, wenn das so wäre.“ Mit „Mainstream-Nice-Guys“ wäre Ungarn nicht gedient. Er sei „nicht beauftragt worden, eine Mainstream-Politik zu machen“, er müsse sein Land „mit den schwierigsten Fragen konfrontieren und für diese Lösungen anbieten“. Doch mit Vaterlandsliebe eckt man in der EU-Welt an. Schon 1989 als Student hat Orbán öffentlich den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Ungarn und die Rehabilitierung der Revolutionäre von 1956 verlangt. Deswegen schätzen es viele Ungran auch heute noch, wenn sich Orbán „Einmischung jedweder Art“ von außen verbittet.

Daß sich Orbán mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) Wortgefechte erlaubt, spricht eher für den Ungarn. Doch daß jetzt auch die christdemokratische EU-Justizkommissarin Viviane Reding aus der EVP-Familie Artikel 7 des EU-Vertrags ins Spiel bringt, ist in der Tat ernst zu nehmen. Denn danach kann ein Mitgliedsland mit Sanktionen bis zum Stimmrechtsentzug in den Unionsgremien belegt werden, wenn es „gegen demokratische Grundsätze verstößt“. Das erinnert an das Vorgehen gegen die „falsche“ Wahl in Österreich im Jahr 2000. Mit dem Unterschied, daß seinerzeit nicht die EU selbst, sondern 14 Regierungen gegen die 15. (die Wiener ÖVP-FPÖ-Koalition) Sanktionen einleiteten.

Die Wortwahl ist ähnlich martialisch: Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn nennt Ungarn einen „Schandfleck“. Unter dem Beifall des belgischen EU-Liberalen-Chefs Guy Verhofstadt sieht der (selbst umstrittene) Grünenchef Daniel Cohn-Bendit Premier Orbán sogar „auf dem Weg, ein europäischer Chávez zu werden, ein Nationalpopulist, der das Wesen und die Struktur der Demokratie nicht versteht“. Sogar Vergleiche mit der „gelenkten Demokratie“ Wladimir Putins oder des weißrussischen Autokraten Alexander Lukaschenko wurden gezogen.

Und das nur, weil eine nationalkonservative Regierung in Budapest ihre Zweidrittelmehrheit – unbeeindruckt von ihrer Kritik – dazu nutzt, Ungarn von Grund auf umzubauen und somit die Revolution von 1989/90 zu vollenden. Die Intensität des Umbaus ist vielleicht vergleichbar mit der unter Margaret Thatcher in Großbritannien. Inhaltlich geht es allerdings in eine etwas andere Richtung. Und die angeblichen Massendemonstrationen gegen Orbáns Politik sind in der Regel weit kleiner als die national orientierten Kundgebungen. Und Umfragen bescheinigen dem Orbán-Lager derzeit weiter eine Mehrheit im Wahlvolk.

Und wogegen verstößt dieser unbotmäßige Orbán eigentlich? Er gängle die Medien, behaupten seine Kritiker. Doch daß ein Umbau der von ausländischen Verlagshäusern und verschuldeten „Staatssendern“ dominierten Medienlandschaft vonnöten ist, können nicht einmal die opponierenden Sozialisten ernsthaft bestreiten. Und die den Sozialisten nahestehende einstige Parteizeitung Népszabadság hat eine ähnliche Auflage wie die fidesznahe Magyar Nemzet.

Was macht Orbán noch verdächtig? Mit Zweidrittelmehrheit wurde eine neue Verfassung beschlossen, die 2012 in Kraft trat. Seit der Wende sollte die nur demokratische angepaßte stalinistische Verfassung von 1949 durch eine gänzlich neue ersetzt werden. Geworden ist nie etwas daraus. Orbán ergriff die Gunst der Stunde und ließ ein Grundgesetz ausarbeiten, das laut dem Ex-Minister und Staatsrechtler Rupert Scholz (CDU) nach „objektiven Kriterien eine moderne, in vielen Punkten sogar vorbildliche Verfassung“ ist.

Darin wird allerdings nicht nur die „Heilige Krone“ von Stephan I. als Symbol der Wahrung der historischen Kontinuität der Nation verehrt, sondern auch der „Segen Gottes“ für deren Gedeih erfleht. Ungarn gehört damit zu jenen wenigen Ländern in Europa, die einen Gottesbezug in der Verfassung haben – und wörtlich aus der ungarischen Nationalhymne entstammt. Auch das „Nationale Glaubensbekenntnis“ ist keineswegs „antieuropäisch“, sondern es betont – fern jedweden territorialen Verlangens – die Verantwortung für die Millionenschar der Ungarn außerhalb der Landesgrenzen: „Die Nation muß über Grenzen hinweg vereint werden. Nicht durch die Bewegung von Grenzen, sondern über die Grenzen hinweg, im kulturellen und geistigen Sinne“, entgegnet Orbán seinen Kritikern.

Das Bekenntnis zur Familie sorgt für Unmut, weil die neue Verfassung die Gleichstellung der Ehe mit gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften ausschließt. Auch mit der Festlegung des 22. Juli zum vierten Nationalfeiertag – im Gedenken an den Sieg eines christlichen Heeres über die Osmanen 1456 – fordert Orbáns Ungarn den Zeitgeist heraus und setzt ihm ein Stück seines christlich geprägten Wertekanons entgegen.

Daß die ungarische Verfassung ohne Volksabstimmung in Kraft gesetzt wurde, hat sie mit dem deutschen Grundgesetz oder der US-Verfassung gemein. Das Daß andere Verfassungsgerichte nicht über ähnliche Kompetenzen wie jenes in Karlsruhe verfügen, ist in Europa nicht ungewöhnlich. Großbritannien und Schweden haben gar kein Verfassungsgericht. Und in Österreich wurde der Verfassungsgerichtshof auch schon öfters durch großkoalitionäre SPÖ-ÖVP-Gesetze im Verfassungsrang ausgehebelt – ohne daß Brüssel daran Anstoß nahm.

Das „Orbán-Bashing“ wird auf politischer wie medialer Ebene weitergehen, auch wenn man Ungarn keine „schwerwiegende Verletzung“ von EU-Grundrechten nachweisen kann. Optimistisch stimmt, daß die Autoindustrie sich weiter von Fakten statt Vorurteilen leiten läßt: Audi betreibt in Raab (Győr) das weltgrößte Pkw-Motorenwerk mit einer Jahreskapazität von zwei Millionen. Zudem werden der Sportwagen TT und A3-Varianten hier montiert. Mercedes begann 2012 mit der Produktion seiner B-Klasse in Ketschkemet (Kecskemét), in diesem Jahr kommt das neue Coupé CLA dazu. Und aus St. Gotthard (Szentgotthárd) sollen statt 300.000 ab 2014 dann 600.000 Opel-Motoren kommen.

Foto: Vereidigung von Ministerpräsident Viktor Orbán im Mai 2010: Drei Jahre am Brüsseler Pranger

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