© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Eduard Gaeblers Schulwandkarte
Redakteure und ihre Heimat: Jörg Fischer stammt aus Thüringen / JF-Serie, Teil 16 (Schluß)
Jörg Fischer

Kollegen, die im schönen Bayern oder im weltstädtischen Hamburg groß geworden sind, fiel die Antwort nach ihrer Heimat leicht. Auch wer heute im grünen Herzen Deutschlands geboren wird, für den ist selbstverständlich Thüringen seine Heimat.

Doch wer hinter dem Eisernen Vorhang mit Schießbefehl, Minenfeld und Selbstschußanlagen aufwachsen mußte, für den hatte der Begriff „Heimat“ bis 1989 einen bitteren Beigeschmack. Um so mehr, wenn die geographische Zwangsjacke „DDR“ so sehr kontrastierte mit der „privaten“ Heimat – Familie, Freunden, dem heimischen Garten, der reizvollen Natur, der Gegend, wo Kriminalität ein Fremdwort war.

Ich hatte das große Glück, meine vier Großeltern noch kennenlernen zu dürfen, denn sie hatten die beiden Weltkriege überlebt. Flucht und Vertreibung blieben ihnen als Thüringer erspart. Unvergeßlich ist die Zeit, als ich nach der Schule nicht in die gräßliche „Schulspeisung“ mußte, sondern bei Oma und Opa am Mittagstisch Platz nehmen durfte. Auch meine Eltern boten mir Heimat – Liebe, Geborgenheit, Zuwendung. Der christliche Kindergarten bewahrte mich bis zum Schulanfang vor „Rotlicht“-Bestrahlung.

Doch daß die „DDR“ nicht meine Heimat ist, wie mir der Heimatkunde- und Staatsbürgerkundeunterricht (ja, so hieß das damals) und später sogar das Westfernsehen weismachen wollten, offenbarte schon jeder Gang in unseren Garten. Denn dazu mußte ich durch unsere „Schuppe“ laufen, wo nicht nur die Fahrräder und Gartenutensilien, sondern auch „Eduard Gaeblers Schulwandkarte“ aus der Weimarer Zeit an der Wand hing. Sie war ein Erbstück und hatte im Zweiten Weltkrieg dazu gedient, die Radiomeldungen über alliierte Bomber (die im Frühjahr 1945 die einstige Reußsche Residenzstadt verheerten) einordnen zu können. Im DDR-Schulatlas waren „Westdeutschland“ (unter Ulbricht) bzw. die „BRD“ (unter Honecker) grau. Die Stadt Hof im Bayerischen Vogtland, nicht einmal 50 Kilometer vom Heim der mütterlichen Großeltern entfernt, existierte nicht. München oder Köln waren nur auf großräumigen Karten zu finden.

Daß familiäre Ausflugsziele meiner Kindheit wie Franzensbad dort nur als „Františkovy Lázně“ und Swinemünde als „Świnoujście“ aufgeführt waren, beweist immerhin im nachhinein, daß die DDR-Bildungspolitiker ihrer Zeit voraus waren. Gaeblers Karte zeigte mir hingegen die vorenthaltene deutsche Heimat. Und sie weckte Lust auf mehr.

Beckmanns Weltlexikon von 1932 und das „Westfernsehen“ (das eigentlich von Sendern in Bayern abgestrahlt wurde) füllten die Leerstellen des Schulunterrichts. Erdkunde war eines meiner Lieblingsfächer, die Flaggen und Hauptstädte aller Länder kannte ich bald auswendig. Der erste eigene Auslandsurlaub führte mich selbstverständlich nach Ungarn, damals die „lustigste Baracke“ im Ostblock – und heute vom „Westen“ verleumdet.

Die mutigen Magyaren öffneten mir dann 1989 auch das Tor in die größere Heimat – das einst so ferne Franken, die Alpen. Im Jahr darauf waren Thüringen und Deutschland wiedervereint, doch berufliche und private Wege führten mich zwischenzeitlich noch weiter weg. Doch so schön es überall war und ist, es bleibt die Erkenntnis: „Heimat ist da, wo deine Wiege stand, du findest in der Fremde kein zweites Vaterland!“

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