© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Europa zwischen Amerika und China
Nabelschau hilft nicht
Klaus Hornung

Als das Machtsystem der Sowjetunion 1989 zusammenbrach, sahen sich die USA und der Westen als Sieger im Ost-West-Konflikt. Die USA verstanden sich nun als einzige Supermacht mit einem globalen Ordnungsauftrag. Und auch die Europäische Union sah sich nach den Erweiterungen in Mittel- und Osteuropa und mit der Gründung der Europäischen Währungsunion auf dem Weg zur zweiten atlantischen Großmacht. Heute, kaum zweieinhalb Jahrzehnte nach der Epochenwende, verdichtet sich der Eindruck, daß der Westen den anfänglichen Erfolg durch seine Hybris verspielte.

Die Ursachen dieser atemberaubenden Entwicklung sind inzwischen überdeutlich. Sogleich nach dem Wegfall der Sowjetunion als „Global Player“ begannen die Regierungen der USA und dann auch der Europäischen Union, die Mächte der Finanzindustrie von der Kette zu lassen. Die Deregulierung der Finanzmärkte sollte Konjunktur und Wachstum beleben, freilich auch die finanzwirtschaftlichen Profite stärken. Mitten hinein in den begonnenen Boom traf der islamistische Angriff auf die amerikanischen Machtzentren in New York und Washington am 11. September 2001. Die amerikanische Regierung reagierte im Vollgefühl der Stärke mit dem „Krieg gegen den Terror“ und nur zwei Jahre später mit dem Angriff auf den Irak.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Anzeichen der amerikanischen Wirtschafts- und Finanzkrise abzeichneten. Sie und die beiden kostspieligen Militärinterventionen (man spricht von Kosten von einer Milliarde Dollar pro Tag) machten deutlich, daß auch die Vereinigten Staaten in eine finanzielle und militärische Überlastung („overstretch“ ) und an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geraten waren. Die Regierung Obama zog daraus 2010 die Konsequenz einer neuen sicherheitspolitischen Doktrin: Danach wurde der strategische Schwerpunkt von Europa nach Südasien verlegt. Zudem sollen im amerikanischen Verteidigungshaushalt in den folgenden zehn Jahren rund 450 Milliarden Dollar eingespart werden, nicht zuletzt durch eine wesentliche Verringerung der amerikanischen Kampftruppen in Europa.

Die Doktrin hält indes an dem amerikanischen Anspruch fest, die stärkste Militärmacht der Welt („second to none“) zu bleiben. Neu ist die Absicht, den hegemonialen Führungsstil der Bush-Ära durch eine neue sicherheitspolitische Partnerschaft zu ersetzen, die dazu dienen soll, die eigenen Militärkosten zu verringern und zugleich den Verbündeten deutlich mehr Anstrengungen abzuverlangen.

Während die USA im Zuge der internationalen Machtverschiebung ihren Status als einzige Supermacht verloren haben, jedoch noch immer zu Militär­operationen über große Distanzen in der Lage sind und neue militärstrategische Schwerpunkte gebildet haben, ist das kommunistisch regierte China auf breiter Front auf dem Weg zur zweiten Weltmacht. Das flächenmäßig viertgrößte Land der Erde mit 1.300 Millionen Menschen hatte in den letzten Jahren ein ökonomisches Wachstum von um die zehn Prozent im Jahr aufzuweisen und verfügt heute über eine Devisenreserve von weit über 3.000 Milliarden Dollar, die es weltweit anlegt: in den USA, in Europa, in strategischen Schwerpunkten in Afrika, Asien und Lateinamerika. Das Wachstum hat zur Entstehung einer neuen, selbstbewußter werdenden Mittelschicht geführt, die heute schon mehr als 30 Prozent, nach anderen Quellen schon nahezu drei Viertel der Industrie in der Hand haben soll; eine Entwicklung, von der manche Beobachter auch langfristige politische Veränderungen erwarten.

Allerdings ist das ökonomische Wachstum auch in China nicht ohne Kehrseite geblieben: eine hohe Staatsverschuldung und eine Inflationsrate von derzeit etwa 4,5 Prozent. Der Aufschwung wird noch immer mit schweren Belastungen des Lebens der Massen erkauft. Dazu gehört auch die rigorose Durchsetzung der Ein-Kind-Politik. Nicht zuletzt als ihre Folge ist in den letzten Jahren eine rasche Überalterung sowie ein spürbarer Mangel an qualifizierten Arbeitskräften entstanden. Bis heute kennt man in China keine nennenswerte öffentliche Altersversorgung, die man noch weitgehend dem traditionellen Familiensinn der chinesischen Gesellschaft überläßt.

Eine nicht geringe strategische Achillesferse der neuen Weltmacht ist der Mangel an eigenen Öl- und Gasvorkommen. Zwar werden Quellen in den eigenen Gewässern intensiv gesucht, aber derzeit ist China noch auf fremdes Öl und Gas angewiesen, das es vor allem aus dem Iran, aber auch aus Brasilien und Venezuela bezieht, mit entsprechend langen und strategisch unsicheren Transportwegen.

Militärisch hat auch in China die Umwandlung der alten Massenarmeen zu modernen High-Tech-Streitkräften begonnen. Besondere Förderung erfahren die See- und Luftstreitkräfte, die den Anspruch auf die globale Weltmachtrolle unterstreichen. Die Insel Hainan wird zu einem chinesischen Hawaii mit Schwerpunkten bei den U-Booten und für die Raketenrüstung ausgebaut, beide mit atomaren Gefechtsköpfen auch interkontinentaler Reichweiten.

Der Nestor der US-Außenpolitik, Henry Kissinger, sieht in der Entwicklung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen das zentrale Problem der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Derzeit mögen noch Kooperationsbeziehungen vorherrschen – die USA als nützlicher Absatzmarkt für China und China als nützlicher, wenn auch nicht unproblematischer Großgläubiger der USA. Das wird sich ändern, wenn China militärtechnisch mit den USA vollends gleichgezogen haben wird. Den Zeitpunkt dafür sehen manche Fachleute schon im Jahr 2020, andere zehn Jahre später.

Nach der Gründung der Nato 1949 wurde immer wieder über den Aufbau eines möglichst starken „zweiten Pfeilers“ der atlantischen Verteidigung in (West-)Europa diskutiert. Mit der Intervention in Afghanistan endete endgültig auch die deutsche Sonderrolle, sich an Kriegen nicht zu beteiligen. Die Haltung der westeuropäischen Völker zu Militär und Krieg blieb allerdings ambivalent. Zwar fand die Beteiligung an internationalen Militärinterventionen immer wieder parlamentarische Mehrheiten. Doch die Skepsis, die Freiheit „auch am Hindukusch“ zu verteidigen (Peter Struck), blieb.

Der Wechsel Frankreichs und Deutschlands von der allgemeinen Wehrpflicht zu Freiwilligenarmeen wurde zwar mit dem Argument begründet, der Krieg des 21. Jahrhunderts benötige hochspezialisierte High-Tech-Streitkräfte. Diese Entscheidung entspringt aber auch dem Bestreben der politischen Klassen, gesellschaftlichen Ballast abzuwerfen, wird das Militär in Europa, von Ausnahmen abgesehen, doch weithin als „notwendiges Übel“ betrachtet. In Deutschland, in Politik und Medien, kommt das Mantra hinzu, man habe „aus Gründen der Geschichte“ militärische Zurückhaltung zu üben und sich in internationalen Konflikten vor allem als „Zivilmacht“ zu präsentieren mit Wiederaufbau-, Katastrophen- und Finanzhilfen – eine Haltung, die bei den Verbündeten zunehmend als faule Ausrede kritisiert wird, als fehlplazierte deutsche „Vergangenheitsbewältigung“.

Es fällt auf, daß die Europäische Kommission als solche über keine expliziten außen- und sicherheitspolitischen Zuständigkeiten verfügt. Inzwischen gibt es zwar eine Hohe Repräsentantin für die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP), die Engländerin Catherine Ashton, und seit 2010 auch einen eigenen europäischen diplomatischen Dienst, der in 140 Staaten der Welt vertreten ist. Er gleicht aber mehr einer Schaufensterdekoration als einem effizienten Instrument, wie gerade die jüngsten internationalen Krisen in Libyen und Syrien zeigen.

Die beiden stärksten Militärmächte der EU, Großbritannien und Frankreich, sehen ihre Interessen am besten durch ihre Vollmitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat gewahrt. Für die Sicherheits- und Militärpolitik der EU ist nach wie vor das Nato-Bündnis und seine Führungsmacht USA zuständig, etwa bei der Zusammenarbeit der Kriegsmarinen, im Zusammenwirken der militärischen Aufklärungssysteme oder der Transportkapazitäten.

Die Europäische Kommission in Brüssel – ein Organisationsmonstrum mit über 40.000 Beschäftigten – sieht den Schwerpunkt ihrer Agenda heute im Management der Euro-Schulden- und Währungskrise, im Zusammenwirken mit den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Die eigentliche politische Brisanz besteht darin, daß die Kommission personell und institutionell vielfältig verflochten ist mit den internationalen finanzkapitalistischen Einflußgruppen und als Entscheidungszentrum agiert, das unterdessen die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten der EU zu seinen Ausführungsorganen gemacht hat und die Bürger und Steuerzahler Europas als Geiseln nimmt.

Das große Nachkriegsprojekt der europäischen Einigung ist seit 1990 zu einer Etappe auf dem Weg zur Errichtung einer „Neuen Weltordnung“ unter der Herrschaft der globalen Finanzmächte verfälscht worden und verkommen. Skeptiker sprechen zu Recht vom Projekt einer globalen Herrschaft mit totalitären Zügen, die gekennzeichnet wird von der planmäßigen Entmachtung der Nationalstaaten, der Auflösung der Völker in einer multikulturellen Einheitswelt sowie der Religionen und Kulturen in einem säkularen „Weltethos“ der „Menschenrechte“ als neuer Zivilreligion. Die nun schon vier Jahre dauernde Euro- und Europakrise mit ihrer „Rettungspolitik“ ist Teil dieser Strategie – mit der Folge der im Gange befindlichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Welt zuungunsten Europas. Um diesen Prozeß zu stoppen, bedarf es einer Generalüberholung der EU und ihrer Institutionen, insbesondere der Kommission und nicht zuletzt der Neuordnung der Euro-Zone als einer Währungsunion der dazu Fähigen.

Die Krise zeigt, daß die klassische Gleichung von guter Regierung, Vertrauen der Bürger und deren Identifikation mit dem Gemeinwesen in Europa tief gestört ist. Die Krise wird nur überwunden werden, wenn es gelingt, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen. Es geht um die Korrektur der gegenwärtigen sogenannten „alternativlosen“ „Euro“-Rettungspolitik, die uns als Rettung Europas verkauft wird und der es doch vor allem um die Interessen der globalen Finanzoligarchie und die Unumkehrbarkeit ihrer Machtambitionen geht. Es geht um die Befreiung aus den Fesseln eines bürokratischen Zentralismus, welcher allzusehr an die Ursachen des Scheiterns des totalitär-zentralistischen Sowjetsystems erinnert.

Es geht um die Wiedergewinnung der Vielfalt und der schöpferischen Kräfte des „alten Kontinents“ und damit um die Behauptung seiner vitalen Interessen im internationalen Mächtekonzert. Nur so kann eine erneuerte Europäische Union wieder in die Lage versetzt werden, als eigenständiger Akteur auf Augenhöhe mit den anderen Subjekten der internationalen Politik an der Eindämmung von Krisen und Konflikten, an der Vermeidung von Katastrophen und an der Offenhaltung einer multipolaren Welt mitzuwirken.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung, Jahrgang 1927, lehrte bis 1992 Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die „Krankheit“ Europas („Der sowjetische Virus“, JF 39/12).

Foto: Die Gewichte verschieben sich: China hat mit seinen 3.000 Milliarden Dollar Devisenreserven großen Appetit auf Europa.

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