© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Der Flaneur
Pennäler auf der Brücke
Toni Roidl

Die örtliche Tageszeitung hat einen Gewinn ausgelobt. Vor dem Preis steht aber die Lösung eines Rätsels. Die Buchstaben des Lösungssatzes ergeben sich aus der Beantwortung kniffliger Fragen zu verschiedenen Orten im Stadtbild: Welche Jahreszahl steht auf dem Denkmal? Wie viele Bäume stehen an der alten Allee? etc., etc.

Daraus ergibt sich eine interessante Rallye durch mehrere Stadtteile. Dem Gewinner winken immerhin ein paar hundert Euro. Nebenbei lernt man noch einige historische Dinge über seine Stadt, die man bislang nicht wußte. Das zieht: Scharen von Familien und Pärchen traben los. Mit Zettel und Stift marschieren sie von Etappe zu Etappe, um die Rätsel zu knacken. Die Redakteure haben offenbar Ehrgeiz gehabt: Für die ganze Tour ist man einige Stunden unterwegs. Das Wetter spielt mit.

Auf einer Brücke sollen die Sprossen des Geländers gezählt werden. Ich mache mir die Mühe nicht, mein Weg führt nur zufällig hierher. Mitten auf der Brücke steht ein älterer Mann. Er trägt einen Cordhut mit kurzer Krempe. Ein Auge zugekniffen blickt er auf das Brückengeländer, hält einen Schreibblock, tippt mit einem Bleistift in die Luft und zählt dabei flüsternd.

Im Vorbeigehen frage ich scherzhaft: „Na, wie viele sind’s denn?“ Er zuckt zusammen, weicht einen Schritt zurück und verdeckt seine Notizen reflexartig mit der Hand. Wie ein Pennäler, der nicht abschreiben lassen will. Er schaut mich zutiefst mißtrauisch an. Er argwöhnt wohl, ich wolle ihm ohne eigene Mühe sein gewissenhaft gezähltes Ergebnis abluchsen. Womöglich durch diesen Betrug auch noch das Geld gewinnen. Aber nicht mit ihm! Darauf fällt er nicht herein.

Knurrend antwortet er: „Es sind genug!“ Ich muß lachen. Er nicht. Mit seinem Zettelblock macht er eine Geste, die sagt „Verschwinde!“ Ich tu’s. Schmunzelnd. Belehrung!unterkriegen!

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