© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/13 / 03. Mai 2013

Zweierlei Titanen
Lebenswege: Der Historiker Eberhard Straub hat eine Doppelbiographie der diesjährigen Jubilare Richard Wagner und Giuseppe Verdi vorgelegt
Peter Betthausen

Die Musikwelt feiert in diesem Jahr den 200. Geburtstag ihrer neben Mozart und Strauss bedeutendsten Opernkomponisten: Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Da Jubiläen von solcher Kompaktheit selten sind, herrscht längst allgemeine Feierstimmung. In Deutschland, wo immer noch am meisten Oper gespielt wird, sind die beiden Titanen der Musik mit ihren Hauptwerken auch in den kleineren Häusern allgegenwärtig. Es herrscht aber auch kein Mangel an neuen Publikationen auf dem Büchermarkt (JF 12/13).

Ein bemerkenswertes Buch zum Thema ist dem Historiker und Publizisten Eberhard Straub gelungen, der das „Geheimnis“ dieser einzigartigen Zeitgenossenschaft zu erhellen versucht. Was die Leser von Franz Werfels populärem Verdi-Roman aus dem Jahr 1924 schon immer wußten, bestätigt auch Straub: Wagners und Verdis Lebensweg hat sich mehrmals gekreuzt; sie hätten sich in Paris, Wien, London oder auch in Venedig, wie Werfel es sich ausmalt, begegnen können. Doch sie trafen sich nicht, offenbar bestand auf beiden Seiten kein Bedürfnis nach näherer Bekanntschaft.

Sicher ist aber, daß sich Wagner und Verdi – als Konkurrenten, die sie nun einmal waren – gegenseitig zur Kenntnis nahmen, daß die Erfolge und Mißerfolge des anderen registriert wurden und man gelegentlich auch dessen Musik wahrnahm – so wie Werfels Wagner unversehens, von einer Blaskapelle gespielt, einen Potpourri aus „Aida“ zu hören bekommt. Bis zum gegenseitigen Notenstudium reichte es nicht; es ist aber überliefert, daß sich Verdi nach 1883 mehrere Partituren Wagners beschaffte.

Worauf es Straub aber vor allem ankommt, ist, zu zeigen, daß Wagner und Verdi „zwei Europäer im 19. Jahrhundert“ waren, die ungeachtet ihrer Verschiedenheit in Person und Herkunft „das gleiche Ziel vor Augen hatten, dem sie sich unabhängig voneinander auf getrennten Wegen annäherten: das musikalische Drama“, das nach 1840 sozusagen auf der Tagesordnung der Operngeschichte stand. Verdi und Wagner brachten es schließlich zur Vollendung.

So kann man es durchaus formulieren; jedes gesellschaftliche Teilsystem, auch die Oper, verfolgt eigene Ziele und hat seine eigene Geschichte, die sich jedoch nicht unabhängig von den äußeren Bedingungen vollzieht. Straub stellt das Musikdrama, wie es sich im Schaffen von Verdi und Wagner entwickelt, deshalb in den Kontext der gesellschaftlichen Umwälzungen im Europa des beginnenden Kapitalismus und Nationalismus.

Einen Vordenker des Musikdramas entdeckt er in dem interessanten bürgerlich-demokratischen Revolutionär Giuseppe Mazzini (1805–1872), dessen Ideengut er bei Wagner und Verdi gleichermaßen wiederfindet, und beruft sich auch auf Friedrich Schiller, der in seiner Rede über die „Schaubühne als eine moralische Anstalt“ von 1784 auch das Programm des musikalischen Dramas der Zukunft formuliert habe: Es werde eine Art von Drama sein, sagt Schiller, bei dem „jeder einzelne (…) die Entzückungen aller (genießt), die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese, ein Mensch zu sein“.

Über das Streben Wagners und Verdis nach einer „Oper der Zukunft“ und die Bedingungen, unter denen es stattfand, erzählt Straub in sechs gedanklich dichten Kapiteln. Die Geschichte beginnt in Mailand, wo Verdis erstes Werk aufgeführt wurde, 1842 auch die Oper „Nabucco“, deren Gefangenenchor jeder Musikfreund kennt, ihn meist aber als patriotischen Gesang mißdeutet. Verdi ging es in seinen Opern zuerst um die dramatische Wahrheit – wie seinem Zeitgenossen Wagner, dessen „Meistersinger“ auch als exemplarische deutsche Nationaloper überinterpretiert wurden; in Wirklichkeit sei sie, wie Straub meint, eine „Oper über Bürger, die des Reichs und des Nationalstaats nicht bedürfen“.

Das Verhältnis Wagners zur deutschen Nationalbewegung war in der Tat problematisch, schon weil der eingefleischte Sachse eine tiefe Abneigung gegen Preußen hatte. Wagner blickte fasziniert nach Paris und hoffte, dort bald bekannt zu werden, kam aber zunächst nicht von Dresden los, wo zwischen 1842 und 1845 immerhin „Rienzi“, „Der fliegende Holländer“ und „Tannhäuser“ zum erstenmal über die Bühne gegangen waren. 1849 mußte es der „radikale Antibürger“, wie Straub den jungen Wagner nennt, fluchtartig verlassen, weil er auf der Barrikade gestanden hatte, um gegen die Preußen und für die Freiheit, auch für die Freiheit der Kunst, zu kämpfen.

In den beiden zentralen Kapiteln drei und vier wird der Leser in das Paris und Wien der 1850er und frühen 1860er Jahre versetzt. Verdi gelang in der Opernhauptstadt der Welt endgültig der internationale Durchbruch mit „Rigoletto“, „Il Trovatore“ und „La Traviata“ und fand in der ehemaligen Sängerin Giuseppina Strepponi eine neue Lebensgefährtin.

Wagner lebte damals meist in Zürich, reiste aber oft an die Seine, wo er 1853 Cosima von Bülow kennenlernte, konnte jedoch dort nicht Fuß fassen. 1861 kam es bei der Aufführung des „Tannhäuser“ an der Pariser Opera zu einem Skandal, der aber weniger dem Komponisten als seinem Förderer Napoleon III. galt. Im selben Jahr hörte Wagner in Wien zum erstenmal seinen „Lohengrin“, scheiterte aber mit „Tristan und Isolde“ und mußte 1864 wegen hoher Schulden sogar die Flucht ergreifen; in Stuttgart erreichte ihn schließlich der rettende reitende Bote des Königs von Bayern.

1875 feierten dann Wagner und Verdi in Wien wahre Triumphe. Im Juni dirigierte Verdi dort das „Requiem“ und „Aida“; im Spätherbst kam Wagner und brachte „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ zur Aufführung. Wagner, der seit 1872 in Bayreuth lebte, hatte inzwischen Italien, auch das gelehrte klassische Bologna, erobert – 1871 erlebte das Teatro Communale mit „Lohengrin“ die erste italienische Aufführung einer Wagner-Oper – und stand im Begriff, seine „Kunst-utopie“ zu „verwirklichen“.

So auch der Titel des letzten Kapitels von Straubs Doppelbiographie. Im August 1876 wurde im neueröffneten Bayreuther Festspielhaus „Der Ring des Nibelungen“ uraufgeführt; mit diesem „Bühnenfestspiel“, ebenso mit „Parsifal“, der bei den zweiten Festspielen 1882 als „Bühnenweihfestspiel“ das Licht der Opernwelt erblickte, beschäftigt sich Straub sehr ausführlich. Verdi, der trotz seines wachsenden internationalen Ruhmes von solchen Verhältnissen nur träumen konnte, erfährt aber auch die seinem Spätwerk gebührende Würdigung. Straub weist ausdrücklich auf die geglückten Überarbeitungen der 1880er Jahre hin, besonders auf „Simon Boccanegra“, und schreibt kenntnisreich über „Otello“ und „Falstaff“.

Die abschließenden Erörterungen über Wagners und Verdis „Nachruhm im Europa des Nationalismus“ im 20. Jahrhundert führen schon über das Thema hinaus und hätten ein eigenes Buch werden können. Man liest sie mit viel Gewinn und nimmt überrascht zur Kenntnis, daß Verdi schon bald nach seinem Tod 1901 Wagner in der Gunst der Opernfreunde eindeutig überflügelte. In den 1920er Jahren stand das gesamte Verdi-Œuvre auf den deutschen Spielplänen, und auch nach 1933 wurde Verdi häufiger als Wagner gespielt. Heute scheint es eher umgekehrt zu sein; eine rundum solide Verdi-Aufführung wird auf deutschen Opernbühnen anscheinend immer seltener.

 

Prof. Dr. Peter Betthausen ist Kunsthistoriker. Von 1985 bis 1990 leitete er die Nationalgalerie in Berlin (Ost).

Eberhard Straub: Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, gebunden, 351 Seiten, 24,95 Euro

Foto: Giuseppe Verdi und Richard Wagner: Mit ihren Hauptwerken sind beide Komponisten auch in den kleineren Häusern allgegenwärtig

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