© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

Metamorphosen des Bösen
Klassiker der Zeitgeschichtsschreibung: Vor fünfzig Jahren erschien Ernst Noltes längst zum Standardwerk avanciertes Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“
Felix Dirsch

Bahnbrechende Werke hat die deutsche Historiographie nach 1945 nur wenige hervorgebracht. Man kann Karl-Dietrich Brachers „Auflösung der Weimarer Republik“ ebenso wie Armin Mohlers „Die Konservative Revolution in Deutschland“ nennen, vielleicht noch Joachim C. Fests im Vergleich dazu stärker populärwissenschaftlich ausgerichtete Hitler-Biographie.

Zu den beinahe konkurrenzlosen Klassikern zählt auch nach fünf Jahrzehnten Ernst Noltes Faschismus-Darstellung. 1963 erschienen, fällt sie in die Zeit des gesellschaftlichen Umbruches, der „1968“ langsam aber sicher ankündigt. Für eine überaus heftige Politisierung sorgte die Spiegel-Affäre 1962.

Die sozialen Veränderungen hinterlassen auch in der Historikerzunft ihre Spuren. Hier ist am Beginn der sechziger Jahre ein Interpretationsvakuum bezüglich der jüngsten Vergangenheit zu erkennen. Die im vorhergehenden Jahrzehnt vorherrschende Totalitarismustheorie gerät zunehmend als „Ideologie des Kalten Krieges“ in Verruf. Hingegen befinden sich die in den 1970er Jahren üppig sprießenden, überaus flachen Faschismustheorien, die letztlich die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik destabilisieren wollen, noch nicht in den Startlöchern.

Nolte betrat also im Hinblick auf die ebenso wissenschaftliche wie generische Deutung des Faschismus Neuland. Da es freilich schon eine ältere Faschismuskritik von orthodox-marxistischer Seite gab, die nach dem Krieg jedoch kaum Einfluß ausübte, verwundert es nicht, daß der zeitweise als Gymnasiallehrer für alte Sprachen tätige Autor nicht selten als Linker eingestuft wurde. Hinzu kam seine Vergangenheit als Mitglied des Grünwalder Kreises, dem prominente Literaten wie Erich Kuby und Hans Werner Richter angehörten, die nicht zuletzt gegen die Wiederbewaffnung protestierten.

Philosophischer Zugang zur Geschichtswissenschaft

Noch heute darf man erstaunt sein, daß es seinerzeit für einen promovierten Philosophen, der während des Krieges dienstuntauglich war und daher bei Martin Heidegger studieren konnte, möglich war, als Historiker zu reüssieren. Als ihm der früh verstorbene Kollege Detlev K. Peukert einmal vorwarf, seinen Arbeiten merke man an, daß der Verfasser nie Geschichte studiert habe und diese nicht einmal Proseminarniveau hätten, so konnte Nolte unschwer replizieren. Wenn das, was die Gegenseite von ihm erwarte, Geschichtswissenschaft sein solle, sei er froh, dieses Fach als Student nie belegt zu haben.

Nolte näherte sich seinem Untersuchungsgegenstand weder mittels der politikgeschichtlichen noch mittels der sozialhistorischen Betrachtungsweise, sondern bevorzugte einen philosophischen Zugang. Er machte sich bemerkbar durch den Versuch, die von seinem Lehrer Heidegger fortgesetzte phänomenologische Tradition Edmund Husserls auf die Zeitgeschichte anzuwenden. Freilich leuchtet die Applikation dieser Methode im historischen Zusammenhang nicht unbedingt ein. Es ist zumindest zweifelhaft, ob historische Erscheinungen „von sich aus“ etwas erklären können, wie der Verfasser schreibt.

Nolte erfaßt den Faschismus durch den Vergleich von Action Française, italienischem Faschismus und dem deutschen „Radikalfaschismus“. Die zuerst erwähnte Bewegung, die der Schriftsteller Charles Maurras (1868–1952)maßgeblich inspiriert hat, unterscheidet sich von den beiden anderen primär dadurch, daß sie nie auch nur in die Nähe der Macht kam.

Zwischen dem italienischen und dem deutschen Faschismus zeigte Nolte die Unterschiede wie Gemeinsamkeiten vorbildlich auf. Auffallendste Affinität der drei Varianten des Faschismus ist ihr gewalttätiger „Antimarxismus“. Der später so heftig attackierte „Kausalnexus“ wird an dieser Stelle grundgelegt. Ohne den sowjetrussischen Umsturz von 1917 kein Aufstieg des Faschismus, der als Reak-tion auf das Schreck- wie Vorbild gesehen wird, das im Auftreten sogar nachgeahmt wurde. Auf diese Weise leistete Nolte einen maßgeblichen Beitrag zur immer wieder geforderten wie gleichzeitig perhorreszierten Historisierung des Nationalsozialismus.

Unfaire Kampagnen zahlreicher Gegner

Besonders fulminant ist die letzte Passage („Umriß einer transzendentalen Soziologie dieser Zeit“). Mit Berufung auf Marx, Nietzsche und Weber wollte Nolte das Wesen des Faschismus als Kritik der theoretischen wie auch der praktischen Transzendenz erfassen. Diese häufig diskutierte Unterscheidung, hinter der ungenannt Heidegger steht, griff Nolte bis in seine letzte Schrift, der im Herbst 2012 erschienenen Sammlung einiger Aufsätze mit dem Titel „Am Ende eines Lebenswerkes“, immer wieder auf. Transzendenz definierte er als „Ausgriff zum Ganzen“. Ohne diese Überschreitung gäbe es seiner Ansicht nach nur ein Dahinvegetieren des Menschen.

Theoretische Transzendenz ist eine philosophische Umschreibung dessen, was traditionell als Göttliches bezeichnet wird. Mehr und mehr gewinnt in der Neuzeit ein analoges Phänomen an Fahrt: die praktische Transzendenz, die mit vorher ungeahnten Kräften alle bisherigen Grenzen des Humanen zu überwinden versucht und dabei urwüchsige Bindungen tangiert. Das ruft antimodernen Widerstand hervor, der einst vom Faschismus und gegenwärtig vom Islamismus verkörpert wird. Der heutige Leser denkt bei „praktischer Transzendenz“ an Globalisierung, aber auch an diverse technische Risiken der Zukunft. Daß diese enorme Gefahren bergen, weiß jeder, der die aktuellen Bioethikdebatten verfolgt. Wird am Ende der „praktischen Transzendenz“ die „Abschaffung des Menschen“ (Clive S. Lewis) stehen und er sich in der Selbstüberschreitung in Frage stellen?

Daß es Nolte gelingt, Philosophie und Geschichte, die nach Hegel getrennte Wege einschlagen, in einem beachtlichen Entwurf zu verbinden, bleibt ein wichtiges Verdienst. Sein späterer Konkurrent Hans-Ulrich Wehler hat in einer beinahe euphorischen Rezension diesen Aspekt des großen Entwurfes herausgestellt. Der bedeutende publizistische Erstling war in seiner Anlage ungewöhnlich und kündigte die Karriere eines genialen Außenseiters an. Leider verdunkelten unfaire Kampagnen (Historikerstreit) der zahlreichen Gegner in den letzten Jahrzehnten wie auch eigene kräftige Zu- und Überspitzungen die exzellente analytische Leistung. Der internationalen Resonanz des als Habilitationsschrift angenommenen, epochalen Werks tat dies jedoch nie einen Abbruch.

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