© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die Entwertung des Freundschaftsbegriffs begann nicht erst mit den Sozialen Netzwerken. Wilhelm Grönbech hat darauf hingewiesen, daß der germanische Begriff „Freund“ ursprünglich nur den Sippengenossen bezeichnete, später den, der – wie sonst nur die Sippengenossen – Seite an Seite mit uns kämpft.

Die eindrucksvollsten Ausstattungsstücke des Bremer Doms finden sich im Verborgenen, in den beiden Krypten. Die im Westen birgt das romanische Taufbecken mit den Löwenreitern, die im Osten eine Reihe von Kapitellen, die wahrscheinlich aus den Anfängen des Baus – dem 11. Jahrhundert – überdauert haben. Sie geben einen lebendigen Eindruck dieser Phase des Übergangs, im Grunde einer Phase der Entwicklung, in der Vorchristliches und Christliches gar nicht klar zu unterscheiden ist. So spielt für die bildlichen Darstellungen die Midgardschlange der germanischen Mythologie eine zentrale Rolle, als Umschließerin der Welt wie als apokalyptisches Wesen, zusammen mit dem Fenriswolf. Es hat eine eigene symbolische Qualität, daß die Kapitelle im Unterraum der Kirche stehen, als bildlicher Ausdruck der vorbereitenden Offenbarung, könnte man sagen.

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Die Gemeinde der Bremer Liebfrauenkirche konnte sich 2009 einem neuen Verständnis von Totengedenken „öffnen“ und ließ deshalb das Ehrenmal für die Gefallenen im Vorraum des Gotteshauses durch übermannshohe Glasplatten verstellen, so daß, wer noch einen Blick auf die Darstellung des toten Jünglings mit Stahlhelm und Schwert werfen will, durch etwa zwei Zentimeter breite Lücken linsen muß. – Wenigstens hat sich niemand am eindrucksvollen Reiterrelief des älteren Moltke an der Fassade zu schaffen gemacht, das nur allmählich verwittert, unbeachtet, aber die Inschrift weiter lesbar: „Der Euch gewappnet und gewehrt, / bedenkt, die Ihr ihm naht / Es stützt der Friede sich aufs Schwert, / im Schweigen wächst die Tat.“

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Bildungsbericht in loser Folge XXXVIII: Die Vorschläge des Modephilosophen Richard David Precht zur totalen Schulreform – Abschaffung von Klassen, Noten, Zeugnissen – wirken wie der Sturz durch ein Zeitloch in die Sechziger. Es hilft also auch nicht, wenn die linken Eltern damals dem antiautoritären Blödsinn fernstanden und stramme Leninisten waren.

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Die Junge Union hat in einer seltenen Anwandlung von politischem Mut beschlossen, juristisch gegen den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) vorzugehen, den Repräsentanten der dänischen Minderheit auf deutschem Boden. Dabei spielt natürlich eine Rolle, daß der SSW seine früher geübte Zurückhaltung aufgegeben und zuerst eine rot-grüne Landesregierung toleriert hat und sich jetzt an einer aktiv beteiligt. Weiter geht es um die Tatsache, daß die Sonderrechte, die dem SSW nach dem Zweiten Weltkrieg zugestanden wurden, dazu führen, daß er mit nur 4,6 Prozent der Wählerstimmen nicht nur in den Landtag einzieht, sondern gleich drei Mandate erhält. Bedauerlich ist bei der ganzen Angelegenheit nur, daß man nicht prinzipiell werden möchte, sondern sich aufs Formal-Rechtliche zurückzieht. Das hat mit der Angst vor dem Totschlagargument der deutschen Besetzung Dänemarks zu tun, obwohl es an der Zeit wäre, die ganze historische Dimension in den Blick zu nehmen, zu der die traditionelle Aggressivität der „Eiderdänen“ diesseits und jenseits der Grenze gehört oder die Frechheit Kopenhagens, sich am Fleddern der deutschen Grenzgebiete nach dem Ersten Weltkrieg beteiligt zu haben, obwohl man keinen Schuß abgegeben hatte. Natürlich wird der SSW jeden Vorwurf zurückweisen, er treibe Irredenta-Politik, aber wenn man durch Schleswig-Holstein fährt, fallen gelegentlich doch unangenehm die dänischen Flaggen mit Schleswiger Wappen auf, die die Freunde

„Sydslesvigs“ zeigen.

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Hans Ulrich Gumbrecht findet, daß der Kapitalismus am Ende ist. Nach dem Untergang des Sozialismus habe sich nun auch die Alternative erledigt, mitsamt dem Links-Rechts-Gegensatz. Pikant ist die Idee, daß deshalb wieder von vorne angefangen werden sollte, indem man die alternativen Wirtschaftsvorstellungen restituiert. Offenbar wurde die Amerikanisierung oder westernization Gumbrechts so erfolgreich abgeschlossen, daß er kein Drittes mehr zu denken vermag. Als kleine Anregung: Alain de Benoists neuestes Buch ist eine Biographie Édouard Berths, eines Schülers von Georges Sorel, der mithin aus der Schule des Anarchosyndikalismus kam, sich wie sein Meister aus Widerwillen gegen den Liberalismus vorübergehend der royalistischen Rechten näherte, den Ersten Weltkrieg ablehnte und die Oktoberrevolution begrüßte, als noch niemand ganz klar sehen konnte, was das werden würde, um dann den sowjetischen wie jeden anderen „Faschismus“ zu bekämpfen und nach etwas zu suchen, was Benoist treffend als „heroischen Sozialismus“ bezeichnet.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 24. Mai in der JF-Ausgabe 22/13.

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