© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

Parallelen zu Hitchcock
Kino: Der Psychothriller „Stoker“ erzeugt eine in den Bann ziehende Atmosphäre
Claus-M. Wolfschlag

Über mehrere Jahrzehnte entwickelte Alfred Hitchcock den psychologischen Thriller und verlieh ihm seine einzigartige Handschrift. Der Altmeister des Genres starb 1980, doch seine Fans fragen sich sicher gelegentlich, wie Hitchcock heute Filme wohl drehen würde. Auf diese Frage gibt der 1963 in Südkorea geborene Park Chan-wook mit „Stoker“ nun zumindest eine sichtbare Antwort.

Ein direkter Vergleich liegt insofern zumindest nahe, als es einen Hitchcock-Film mit ähnlicher Ausgangslage gibt – „Im Schatten des Zweifels“ (Originaltitel: „Shadow of a Doubt“) aus dem Jahr 1943. Joseph Cotten spielte damals den mysteriösen Onkel Charles, der auf der Suche nach einer Zuflucht in die kleinstädtische Familie seiner Schwester zieht. Dort entwickelt sich eine besondere Verbindung zwischen ihm und seiner jungen Nichte, die schließlich aber das mörderische Geheimnis des Mannes recherchiert.

Sicherlich nicht grundlos wählte nun Park Chan-wook ebenfalls den Namen Charles für jenen zwielichtigen Onkel (Matthew Goode), der in „Stoker“ das Geschehen in Gang setzt. Gerade ist der Familienvater bei einem tödlichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als Charles vor der Tür der Witwe (Nicole Kidman) und deren 18jähriger Tochter India (Mia Wasikowska) steht. Es entwickelt sich ein undurchsichtiges Dreiecksverhältnis zwischen dem selbstbewußt auftretenden Onkel, seiner seelisch labilen Schwägerin und der verschlossenen, abweisend wirkenden Nichte. Beobachtet und verfolgt fühlt sich das feinsinnige Mädchen, und sie beobachtet nun ihrerseits. So stöbert sie schließlich in Charles’ Taschen sowie den Unterlagen ihres Vaters, um schrittweise hinter die Geheimnisse der Familiengeschichte zu gelangen.

Hitchcock hätte vermutlich manches Problem der Geschichte eleganter gelöst, vor allem auf einige erklärende Rückblenden verzichtet, um statt dessen Indias Spurensuche mehr Raum zu geben. Dennoch ist der Psychothriller ein Augenschmaus. In vielen Detailaufnahmen zeigt Park Chan-wook seine Stärke in der Erzeugung einer in den Bann ziehenden Atmosphäre: die über den Schuh krabbelnde Spinne, die spärliches Licht in die Dunkelheit schwingenden Kellerlampen, die kalt ausgeleuchtete, einsame Telefonzelle.

Doch auch die Geschichte ist vielschichtig, berührt sie doch die Frage des Blutes. Insofern läge falsch, wer meint, daß der eindeutig an „Dracula“-Erfinder Bram Stoker (1847–1912) ausgerichtete Filmtitel zufällig gewählt sei, bloß weil es sich um keinen offenkundigen Vampirstreifen handelt. 2009 hatte der Regisseur schließlich bereits mit „Durst“ (Originaltitel: „Bak-Jwi“) einen solchen gedreht.

In der nun gezeigten Familie Stoker sind durchaus alle Zutaten dazu vorhanden, nur daß die Story diesmal nicht den Schritt ins Phantastische geht: der dunkle Keller, der auch als Grab dienen kann, die Weitergabe des Blutes und die Lust am Blut. Auch die sexuelle Komponente, ein verstecktes Thema des Vampirgenres, ist ganz zentral in diesem Film, beschreibt er doch auch das Erwachsenwerden, das Erwachen des jungen Mädchens India eindeutig in Form der sexuellen Lust. Und diese wird von India vor allem in Verbindung mit Blut und dem Tun ihres scheinbar fürsorglichen Onkels erfahren. Grandios beispielsweise die Szene, in der sich das gemeinsame Flügelspiel mit ihrem Onkel in Indias erregtem Keuchen auflöst. Und so wird Mord schließlich zum auslösenden Moment sexueller Perversion.

Park Chan-wook, der Quentin Tarantino zu seinen Fans zählen darf, hat folglich mit „Stoker“ ein Hybrid mit ganz eigener Handschrift geschaffen. Die düstere Neuschöpfung eines Hitchcock-Klassikers, ein Pubertäts-Psychogramm und einen Vampirfilm ohne Vampire. Eine fürwahr einnehmende Verbindung.

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