© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

Orwells Anti-Utopie heute
Makabre Parallelen
Heinz-Joachim Müllenbrock

Man würde annehmen, daß in einer Zeit, in der, zumindest in der westlichen Welt, die physische Vernichtung des Menschen durch staatliche Willkür gebannt ist, in einer Zeit, in der die biologisch-technologische Transformation des Menschen rasante Fortschritte macht, Aldous Huxleys hedonistische, auf sanfte Disziplinierung setzende Anti-Utopie „Schöne neue Welt“ (1932) ungleich gegenwartsrelevanter sein müßte als Orwells düstere Vision in „1984“ (erschienen 1949). Orwell hat aber nicht nur gemeinsten physischen Terror geschildert, sondern sich auch eingehend mit der nicht weniger bedrückenden geistigen Knebelung des Menschen auseinandergesetzt. Dieser zumindest hierzulande weniger bekannte Orwell ist von beklemmender Aktualität, und es frappiert geradezu, welche Defizite im öffentlichen Meinungsklima unseres Landes aus Orwellscher Optik zu entdecken sind.

Ein Mangel an Zivilcourage liegt wie Mehltau über dem größeren Teil der deutschen Medienlandschaft. Traurig die Fehlentwicklung, daß es mehr tatsächlich praktizierte Meinungsfreiheit im kaiserlichen Deutschland vor einem Jahrhundert gab als heute.

Orwell war ein ebenso unerschrockener wie sensibler Anwalt einer freiheitlichen Meinungskultur, deren Behinderungen er anprangerte. Der Publikationskontext seines späteren Welterfolges „Animal Farm“ (1945), der Tierfabel, die dem Kommunismus Stalinscher Prägung die Maske vom Gesicht riß, liefert dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Orwells Manuskript war von vier englischen Verlagen in opportunistischer Leisetreterei abgelehnt worden, um die Sowjetunion, den Verbündeten Englands, nicht zu brüskieren. Im Zusammenhang mit der Zurückweisung seines Manuskripts schrieb Orwell den erst am 15. September 1972 im Times Literary Supplement veröffentlichten Essay „The Freedom of the Press“. Darin beleuchtet er den unheilvollen Umstand, daß in England Zensur weitgehend freiwillig ausgeübt werde, um unbequeme Ideen totzuschweigen. Er spricht von verschleierter Zensur, die offizielle Verbote überflüssig mache; es sei einfach nicht angängig, gewisse Dinge auszusprechen.

Orwells Beschreibung der damaligen englischen Situation weist makabre Parallelen zur heutigen deutschen Medienlandschaft auf. Auch in der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland wird durch die Unterwerfung von Presse und elektronischen Medien sowie politischen Parteien unter das Tunlichkeitsgebot eine freiwillige Zensur praktiziert, die der veröffentlichten Meinung einen Maulkorb anlegt. So ist etwa, um einen einschlägigen Themenbereich zu nennen, die Tendenz unverkennbar, kritische Stimmen zur Lage der Europäischen Union bzw. überhaupt zu der als sakrosankt betrachteten deutschen Europapolitik mit Schweigen zu übergehen, laut Schopenhauer das „wirksamste und feigeste aller Mittel“, um sich unangenehmer geistiger Konkurrenz zu erwehren. Ein Autor wie Hans Herbert von Arnim konnte von vornherein nicht mit einer sachgerechten Würdigung der Argumente rechnen, die in seinem Buch „Das Europa-Komplott. Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln“ (2006) vorgebracht wurden, weil sie gegen den vorgeschriebenen Benimmkodex des politisch-medialen Establishments verstießen.

Ein Mangel an Zivilcourage liegt wie Mehltau über dem größeren Teil der deutschen Medienlandschaft; Hilde Domin hat übrigens schon 1983 in ihrem Essay „Zivilcourage: ein Fremdwort“ dieses immer spürbarere deutsche Defizit diagnostiziert. Es kann nur als traurige Fehlentwicklung verbucht werden, daß es mehr tatsächlich praktizierte Meinungsfreiheit im kaiserlichen Deutschland vor einem Jahrhundert und in der frühen Bundesrepublik vor einem halben Jahrhundert gab. Das Urteil eines einseitiger Wahrnehmung unverdächtigen ausländischen Beobachters spricht Bände: Als der langjährige Deutschlandkenner John le Carré vor wenigen Jahren um eine vergleichende Stellungnahme zu der alten, ihm vertrauten Bundesrepublik und der neuen Berliner Republik gebeten wurde, antwortete er dem Interviewer, daß er im heutigen Deutschland am meisten die frühere Liberalität im öffentlichen Meinungsklima und echte Kontroversen vermisse!

In seinem Jahrhundertbuch „Nineteen Eighty-Four“ hat Orwell ein Exempel statuiert und den Verlust der Meinungsfreiheit in einer brutalen Gesinnungsdiktatur als ominöses Fanal an den Horizont der Zukunft geschrieben. Er zeichnet das Bild eines gigantischen Gedankengefängnisses, in dem die technische Domestizierung des Menschen mittels ständiger Überwachung durch die nicht abstellbaren Zweiwegetelevisoren ergänzt und perfektioniert wird durch die „Newspeak“ genannte Sprache. Es handelt sich um eine von der allmächtigen Gedankenpolizei („Thought Police“) gelenkte, ausgeklügelte linguistische Überwachungsagentur, die bereits das in den Blick rückt, was heute als „Political Correctness“ bezeichnet wird. Die Kernfunktion von „Newspeak“ besteht darin, unerwünschte, dem herrschenden System widersprechende Wörter auszumerzen, so daß abweichendes Denken aufgrund fehlender sprachlicher Voraussetzungen unmöglich wird.

Einzelaspekte dieser sprachlichen Disziplinierung sind die Beseitigung traditioneller Wortbedeutungen, Euphemismen als Vehikel der auf politische Verschleierung abgestellten politischen Sprache, inkriminierte Wörter und den propagandistischen Druck auf die Bevölkerung verstärkende Abkürzungen. In der Analyse subtiler sprachlicher Manipulation hat Orwell Großes geleistet. Spezielle mentale Verrichtungen sind „doublethink“ (die Kunst, sich widersprechende Meinungen zu vertreten) und „crimestop“ (die Erzeugung eines schlechten Gewissens vor dem Überschreiten einer gefährlichen Schwelle). Abgerundet wird die totale geistige Drangsalierung der Staatsbürger durch das, was Orwell die Veränderbarkeit der Vergangenheit nennt; durch die systematische Verfälschung der Geschichte wird Winston Smith, die Hauptfigur, vollends zu geistigem Helotentum verdammt.

Was haben die von Orwell ausgesendeten Warnsignale mit der bundesrepublikanischen Realität zu tun? Mehr als einer Demokratie, und namentlich der unsrigen, bekömmlich ist! Denn die Gedankenpolizei Orwellscher Fasson ist auch heutzutage und hierzulande höchst aktiv – man muß nur genauer hinschauen. Unsere oft gerühmte „Streitkultur“ – in Wahrheit sticht die jetzige Bundesrepublik durch eine geradezu aseptische Vermeidung echter Auseinandersetzungen hervor – ist nämlich auf dem besten Wege zu einer die Meinungsfreiheit einschränkenden „Verbotskultur“. In ihrer Ausgabe vom 18. September 2012 registrierte die Neue Zürcher Zeitung diese Tendenz und nannte es bedenklich, wie rasch in Berlin der Ruf nach Zensur erfolge.

Zu Gesinnungsschnüffelei und Denunziantentum – in „Nineteen Eighty-Four“ allgegenwärtig, wie Winston Smith zu seinem Leidwesen feststellen muß – wird aufgerufen, wenn, wie in Baden-Württemberg von der jetzigen grün-roten Landesregierung veranlaßt, ein anonymes Meldesystem zur Bekämpfung des Rechtsextremismus ohne namentliche Angabe des Informanten eingerichtet wird. Pikant dabei, daß Denunziationen, die – wie auch Orwell weiß – nicht einmal vor der eigenen Familie haltmachten, gerade unter nationalsozialistischer Herrschaft gang und gäbe waren. Wie weit die Bereitschaft zum Denunzieren bei uns schon wieder gediehen ist, zeigt der Fall eines Lehrers, der alle drei Strophen des Deutschlandliedes im Musikunterricht bei der entstehungsgeschichtlichen Aufarbeitung der deutschen Nationalhymne singen ließ und deshalb inkriminiert werden sollte (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. November 2012).

Orwellsche Qualität erreichte auch der Versuch der ehemaligen, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft als Vorsitzende des Justizministerrates amtierenden Justizministerin Brigitte Zypries, einer europaweiten „Erinnerungskultur“ strafrechtliche Korsettstangen einzuziehen und zu diesem Zweck den von Juristen mißtrauisch beäugten deutschen Volksverhetzungsparagraphen (130 Abs. 3 und 4 StGB) zum allgemeinverbindlichen Muster zu machen. Das ist reinster Orwell! Man bedenke, welch absolute, völlig illegitime Verfügungsgewalt über den menschlichen Geist sich staatliche Instanzen anmaßen, die die Beschäftigung mit Geschichte strafbewehrten Einschränkungen unterwerfen möchten. In einer klassischen Demokratie wie England sind „Erinnerungsgesetze“ undenkbar.

Einer Beschneidung der Meinungsfreiheit, ja einer Zensur kommt ebenfalls die beklemmende Verbreitung politischer Korrektheit gleich, die sich inzwischen trotz regelmäßiger Kritik etwa in Leserbriefen als eine Form säkularisierter Inquisition durchgesetzt hat. Insbesondere die Tabuisierung immer zahlreicherer, von der Sprachgemeinschaft keineswegs als anstößig empfundener, aber vom Gesinnungskartell als unerwünscht erachteter Wörter wie „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „Asylmißbrauch“ macht den autoritären Anspruch dieser den freien Geist in ein Prokrustesbett zwängenden linguistischen Überwachungsagentur offenkundig. Es erscheint keineswegs abwegig, in diesem Zusammenhang an den Orwellschen Begriff „crimestop“ zu erinnern, denn das Ziel der Sprachpolizei ist es, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen, um jeden kritischen Gedanken schon im Keim, noch vor dem Überschreiten einer gefährlichen Schwelle, zu ersticken, der vielzitierten roten Linie.

Dem Komplex politischer Korrektheit darf auch die selbst bei uns keineswegs verpönte Verfälschung der Geschichte zugerechnet werden. Der Slogan der Staatspartei in „Nineteen Eighty-Four“, „Who controls the past […] controls the future: who controls the present controls the past“, bietet sich als Kommentar zu nicht wenigen zeitgeschichtlichen Sendungen des deutschen Fernsehens an. Die Veränderbarkeit der Vergangenheit, als zentraler Glaubenssatz von „Ingsoc“ (Abkürzung für „English Socialism“) bezeichnet, sollte auch bei uns ein großes Thema sein, an dem sich intellektuelle Redlichkeit bewähren könnte. Daß Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, der Geschichtsfälschung bezichtigt wurde, weil sie die den Tatsachen entsprechende Aussage getroffen hatte, daß Polen 1939 zuerst mobilisierte, kann aber beim besten Willen nicht optimistisch stimmen. Und man prophezeit nicht ins Blaue hinein, wenn man annimmt, daß im nächsten Jahr die Veränderbarkeit der Vergangenheit in Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges Hochkonjunktur haben wird. Unter diesem spezifischen Gesichtspunkt könnte 2014 durchaus ein Orwell-Jahr werden.

Was haben die von Orwell ausgesendeten Warnsignale mit der bundesrepublikanischen Realität zu tun? Mehr als einer Demokratie bekömmlich ist! Denn die Gedankenpolizei Orwellscher Fasson ist auch heutzutage und hierzulande höchst aktiv.

Nicht unerwähnt bleiben soll, daß alle Kinder in Orwells Zukunftsstaat von frühauf in öffentlichen Einrichtungen aufgezogen werden, wo sie ideologisch entsprechend getrimmt werden. Wir sind auf dem besten Wege, dieses in jeder sozialistischen Utopie anzutreffende und in der DDR mustergültig praktizierte Ideal fortschrittsbewußt nachzuahmen. Um auf der Höhe solcher Progressivität zu sein, kann die Praktizierung von „doublethink“, der Kunst des opportunitätsbedingten Sowohl-Als-auch, für Politiker nicht schaden.

Was in der Beschreibung Orwells als voluntaristisches Akrobatenstück erscheint, mutet vielleicht in der Wirklichkeit der deutschen Gegenwart eher platt an. So nannte der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Betreuungsgeld vor einigen Jahren als Minister einen „vernünftigen Kompromiß“, verdammte es aber letztes Jahr im Bundestag als „Schwachsinn“. Die situationsbedingte Verwendung dieser absolut unverträglichen Begriffe hat durchaus Orwellschen Zuschnitt.

Zum Abschluß sei an einem offenbar unbemerkt gebliebenen, aber vielsagenden Beispiel die unermüdliche Aktivität der deutschen Gedankenpolizei veranschaulicht. Es betrifft die gouvernantenhafte öffentlich-rechtliche Sendeanstalt ARD. Am 5. Februar 2011 gab kein Geringerer als der britische Premierminister David Cameron in seiner Münchner Rede anläßlich der Sicherheitskonferenz eine Grundsatzerklärung über das Scheitern des staatlichen Multikulturalismus ab. Diese Erklärung wurde von der ARD in ihren Abendnachrichten unterschlagen, damit niemand auf den Gedanken komme, daß „Multikulti“ etwas anderes als Gutes und Nobles sei. So arbeitet die Gedankenpolizei der ARD, die auf objektive Berichterstattung schon mal verzichtet, um das ideologische Reinheitsgebot zu erfüllen. Das Beispiel zeigt, daß sich dieser Sender penetrant als volkspädagogische Erziehungsanstalt geriert, die bestrebt ist, unliebsamer Meinungsbildung vorzubeugen.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock, Jahrgang 1938, ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den englischen Landschaftsgarten („Symbol nationaler Freiheit“, JF 16/10).

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