© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Im Sog des Krieges
Die Türkei und der Konflikt in Syrien: Anschläge, Provokationen und Denunziationen beherrschen die Szenerie
Günther Deschner

Jeder syrische Flüchtling in der Türkei kennt den Namen Reyhanli. Die Provinzstadt, dicht an der Grenze zu Syrien, ist einer der wichtigsten Zufluchtsorte für Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. Vergangenes Wochenende kam der Krieg aber auch nach Reyhanli, als vor dem Rathaus zwei Autobomben explodierten. Rund 50 Todesopfer wurden gezählt und mehr als 150 teils lebensgefährlich Verletzte. „Reyhanli wurde nicht zufällig ausgewählt“, orakelte der türkische Vizepremier Bülent Arinc.

Innenminister Muammer Güler wurde deutlicher: Die Tat, teilte er mit, sei „von einer Organisation verübt wurden, die enge Kontakte mit dem Regime von Assad nahestehenden Gruppen“ habe. Die Verbindungen mit Syriens Geheimdienst stünden „außer Frage“. Neun Tatverdächtige, auch „der Planer der Anschläge“, seien festgenommen worden, sämtlich türkische Staatsbürger, und sie hätten in den ersten Verhören die Tat „teilweise gestanden“.

Später berichteten türkische Medien, der Doppelanschlag sei von Linksextremisten verübt worden – „mit Hilfe syrischer Stellen“. Alle neun Verhafteten seien türkische Mitglieder der „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front” (DHKP-C) oder der „Türkischen Volksbefreiungspartei-Front” (THKP-C).

Ziel beider Organisationen ist es, die politische Ordnung der Türkei durch Terror zu stürzen und durch ein kommunistisches System marxistisch-leninistischer Prägung zu ersetzen. Beide Untergrundgruppen haben in der Türkei schon zahlreiche Brand- und Sprengstoffanschläge mit vielen Toten verübt und stehen auch in der EU und der USA auf der Terrorliste. Zuletzt war die DHKP-C im Februar mit einem Anschlag eines Selbstmordattentäters auf die US-Botschaft in Ankara in Erscheinung getreten.

Aus einer der „Fronten“ ist die Splittergruppe „Acilciler“ (Die Eiligen) hervorgegangen, die nach jüngsten türkischen Angaben in den Anschlag in Reyhanli verwickelt ist. Ihr Anführer soll vor Jahren aus der Türkei nach Syrien geflüchtet und dort an einem Massaker regimetreuer Milizen an Zivilisten beteiligt gewesen sein.

Obwohl eine türkische Stadt, gilt Reyhanli seit zwei Jahren als ein Zentrum der syrischen Opposition – und als Symbol dafür, daß die Anti-Assad-Rebellen von Erdoğans Türkei schon seit Beginn des innersyrischen Konflikts massiv unterstützt werden. 300.000 syrische Flüchtlinge hat die Türkei inzwischen aufgenommen – und 30.000 von ihnen leben in und um Reyhanli. Mehrere Rebellengruppen haben dort, auf türkischem Territorium, einen Rückzugsraum, einen „sicheren Hafen“, von wo aus sie Assads Luftwaffe eine „lange Nase“ machen.

Die Bomben von Reyhanli treffen die Türkei in einem Moment, da viele Menschen auf Frieden hoffen – nach fast 40 Jahren blutigen Ringens mit der kurdischen PKK, einem Konflikt, der 40.000 Tote und unendliches Leid mit sich gebracht hat. Der zwischen Ankara und PKK-Chef Öcalan jüngst vereinbarte Abzug kurdischer Kämpfer aus der Türkei hat tatsächlich begonnen – und die ersten PKK-Kompanien haben vor einer Woche die Grenze zum kurdischen Nordirak überschritten. Bis zum Herbst soll der Abzug abgeschlossen sein. In einer ersten Reaktion unmittelbar nach den Explosionen von Reyhanli hatte sogar Regierungschef Erdoğan für denkbar gehalten, die Täter hätten womöglich den türkisch-kurdischen Friedensprozeß treffen wollen.

Nicht allen Türken gefällt das apodiktische Engagement Ankaras gegen Assad. Erdoğans Kritiker warnen seit langem, die Türkei werde immer tiefer in den syrischen Konflikt hineingezogen. „Erdoğans Worte des Hasses gegen Assad und die Provokationen gegen Damaskus kommen zu uns mit Anschlägen und Provokationen zurück“, sagte der Chef der oppositionellen Nationalistenpartei MHP, Devlet Bahçeli.

Die Regierung in Damaskus hat die Verantwortung für die Anschläge in Reyhanli scharf zurückgewiesen. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana zitierte Informationsminister al-Subi, Ankara habe „zugelassen, daß aus der Grenzregion ein Zentrum für den internationalen Terrorismus geworden ist“, und sie trage dafür „die moralische und politische Verantwortung“.

Die Türkei hat sich nach dem Anschlag von Reyhanli militärische Vergeltung vorbehalten. Bislang aber machten sowohl Regierung als auch Armee nicht den Eindruck, direkt in den Krieg im Nachbarland Syrien eingreifen zu wollen.

Erdoğan kritisiert aber immer wieder die „Tatenlosigkeit“ des Westens. Erst jüngst hat er seine Forderung nach der Schaffung einer Flugverbotszone über syrischem Gebiet entlang der Grenze wiederholt. Deren Einrichtung könnte nur unter Führung der USA erfolgen. Darauf wird Erdoğan sicher zurückkommen, wenn er dieser Tage in Washington mit US-Präsident Obama zusammentrifft. Er will Obama dann von türkischen „Erkenntnissen“ über einen angeblichen Einsatz von Chemiewaffen durch Assads Armee berichten – und sicherlich seine bekannten Forderungen wiederholen.

Foto: Protest in Reyhanli mit einer beim Bombenanschlag verkohlten türkischen Fahne: Nicht allen Türken gefällt Ankaras Wirken gegen Assad

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