© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

„Der Abschied fällt immer schwer“
Betreuung: Der schwedische Kindergarten Galaxen hat an sieben Tagen 24 Stunden geöffnet. Ein Vorbild auch für deutsche Einrichtungen?
Hinrich Rohbohm

Das Geschrei sorgt für neugierige Blicke in der Götgatan, einer Straße im Stockholmer Stadtbezirk Södermalm. Leute kommen an ihre Wohnungsfenster, schauen hinunter in den Innenhof. Dort steht Lucas mit seiner Mutter auf dem Spielplatz des Galaxen-Kindergartens, einer Betreuungseinrichtung, deren Besonderheit es ist, 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche geöffnet zu haben. Lucas weint, klammert sich energisch an die Beine seiner Mutter, wirft sich auf den Boden. Tränen kullern dem gerade einmal zwei Jahre alten hellblonden Jungen an den etwas rot anlaufenden Wangen herunter.

Seine Mutter Ella Persson (Name von der Redaktion geändert) seufzt. „So geht das fast jedesmal, wenn ich weggehen will“, sagt die 31jährige. Die Krankenschwester hat hier vor einigen Monaten einen Platz für Lucas bekommen. „Ich war so happy, daß es geklappt hat. Es wäre sonst schwierig für mich geworden“, erzählt sie. Der Grund: Ella Persson ist alleinstehend, arbeitet zudem im Schichtdienst. Was für sie bedeutet, manchmal auch nachts arbeiten zu müssen. „Da wird es dann natürlich mit einem kleinen Kind schwierig“, schildert sie ihr Betreuungsproblem. Von ihrem Mann lebt sie getrennt. Ihr jetziger Freund, ein Polizist, habe ebenfalls äußerst unregelmäßige Arbeitszeiten.

Sie haben versucht, ihre Arbeit so zu koordinieren, daß einer von ihnen immer für Lucas da sein kann. Aber das sei in der Praxis nicht immer reibungslos zu organisieren. „Auch die Kollegen haben ja Bedürfnisse, und nicht immer kann ich meine Schicht wie gewünscht mit jemandem tauschen“, sagt die Mutter. Und ihren Beruf aufgeben, das wollen beide nicht.

Natürlich ist da noch Perssons Ex-Mann. „Klar, er nimmt Lucas dann auch schon mal. Aber auch er hat einen nicht einfachen Beruf“, erklärt die Mutter den Umstand, daß ihr einstiger Gatte als Monteur viel unterwegs sei. Bleiben noch die Großeltern. Doch die wohnen mehr als fünf Autostunden von Stockholm entfernt, sagt Persson. Als sie schließlich vom 24-Stunden-Kindergarten Galaxen hörte, schien ihr das die beste Lösung für ihren Sohn zu sein. Eine Betreuungseinrichtung, die niemals schließt. Eine, die sonst unmögliche Zeiten plötzlich möglich macht.

Für Ella Persson ist es ein verlockendes Angebot. Und nicht nur für sie. „Der Bedarf ist enorm“, sagt Lena, die Leiterin der Förskola, wie Schwedens Kindertagesstätten genannt werden. Doch nicht immer wird die Freude der Eltern von ihren Kindern geteilt. Gerade die unter Dreijährigen haben Eingewöhnungsprobleme. So wie Lucas. „Der Abschied von mir fällt ihm jedesmal schwer, das ist dann immer ein großes Drama“, schildert seine Mutter, die ihn während ihrer Arbeitszeit im Galaxen-Kindergarten unterbringt.

Doch ein 24-Stunden-Kindergarten bedeute nicht, daß Eltern ihre Kinder tagelang in der Einrichtung „parken“ können, stellt Lena sofort klar. Sie kennt das Problem der Eltern mit Schichtarbeit und verlängerten Ladenöffnungszeiten nur zu gut. „Dafür gibt es uns“, sagt sie. „Wenn Eltern nachts arbeiten müssen, können sie ihre Kinder am späten Nachmittag zu uns bringen“, schildert sie. Abendessen, baden, Zähne putzen, schlafen gehen. Abläufe im Leben der Kleinen, die dann die Mitarbeiter übernehmen.

„Wir geben den Eltern auch Gelegenheit, sich nach ihrer Schicht auszuschlafen, so daß sie ihre Kinder dann ausgeruht meist am frühen Nachmittag abholen. Die Übernachtung ist aber eher die Ausnahme. 95 Kinder besuchen den Galaxen-Kindergarten derzeit. Nur etwa „zwei bis drei“ Kinder würden die Nacht in der Betreuungseinrichtung verbringen. Und auf mehr hat man sich offenbar auch nicht eingestellt. „Insgesamt stehen fünf Betten zur Verfügung“, sagt Lena. Ein weitaus größeres Interesse bestehe bei den Eltern an einer Unterbringung in den Abendstunden. „Immer mehr Menschen müssen bis 20 Uhr oder sogar 21 Uhr arbeiten“, erklärt die Erzieherin. Etwa Verkäuferinnen, deren Arbeitszeiten aufgrund von verlängerten Ladenöffnungszeiten kinderunfreundlicher geworden sind. Der Bedarf sei riesig, ist Lena überzeugt.

Doch ob schwedische 24-Stunden-Kindergärten so vorbildlich und zukunftsweisend sind wie erst jüngst wieder in deutschen Medien dargestellt, erscheint fraglich. Denn auch dem schwedischen Staat, der viel in seine Erziehungsstätten investiert, sind finanzielle Grenzen gesetzt. Gegenwärtig werde diskutiert, ob das Konzept der 24-Stunden-Kindergärten ausgeweitet werden sollte. „Aber da sind wir skeptisch“, gibt Lena die Stimmung unter ihren Kollegen wieder.

Auch in Schweden seien nicht unbegrenzt Finanzmittel verfügbar, wenngleich sich der Galaxen-Kindergarten über seine Ausstattung nicht beklagen kann. Makellose Spielgeräte. Die Wände sind wie frisch gestrichen, Stühle und Bänke in einwandfreiem Zustand. „Alles wurde gerade erst frisch renoviert“, verrät Lena. Dabei macht sie klar, daß es sich keineswegs um eine Betreuungseinrichtung für Besserverdienende, wohl aber vor allem für diejenigen handelt, die einen festen Arbeitsplatz haben.

Kinder mit Migrationshintergrund sind hier fast gar nicht anzutreffen. „Es ist schon alles toll ausgestattet, auch die Erzieherinnen machen auf mich einen sehr hilfsbereiten und kompetenten Eindruck“, meint Ella Persson. Doch der innere Konflikt, den sie mit sich trägt, kann ihr auch die Förskola nicht abnehmen. „Ich würde ja am liebsten immer für Lucas da sein, aber das läßt mein Beruf nun mal nicht zu“, gesteht die Mutter, die davon spricht, daß ihr der Schritt, ihren Sohn über Nacht in fremde Hände zu geben, nicht leichtfalle.

Erik Lorentsson und seine Frau haben sich für einen anderen Weg entschieden. „Für uns war klar, daß einer mit dem Arbeiten aufhört, wenn wir Nachwuchs bekommen“, sagt der 37 Jahre alte gelernte Industriekaufmann, der heute als leitender Angestellter in einem mittelständischen Unternehmen arbeitet.

Auch bei ihm wird es oft später im Betrieb. Manchmal komme er erst gegen zehn Uhr abends nach Hause. „Liam ist dann schon im Bett. Und wenn sein inzwischen fünf Jahre alter Sohn dann am nächsten Morgen aufwache, sei er schon wieder unterwegs zur Arbeit. „Aber es ist gut zu wissen, daß meine Frau da ist. Besonders für ihre Tochter Helgi, die gerade erst zwei Jahre alt geworden ist. „Aber das ist finanziell schon eine Umstellung“, sagt Erik.

In Schweden gibt es kein Ehegattensplitting wie in Deutschland. Der Druck, schnell wieder arbeiten gehen zu müssen, ist ungemein größer. „Es ist aber auch nicht so, daß wir nun in finanzielle Schwierigkeiten kommen, weil ich jetzt zu Hause bin“, stellt seine Frau klar, die bis zur Geburt ihres Sohnes in einer Drogerie gearbeitet hatte. „Wäre ich auch berufstätig geblieben, hätten natürlich auch wir ein Betreuungsproblem. Aber die Kinder stehen da bei uns klar an erster Stelle“, sagt sie; wenngleich die 29jährige einräumt, daß ihre Situation nicht mit der von Alleinerziehenden zu vergleichen sei.

Für die sei das 24-Stunden-Konzept eine große Hilfe, betont eine junge Erzieherin des Galaxen-Kindergartens gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Aber: „Es ist manchmal schon erschütternd mit anzusehen, wie eiskalt Karrierefrauen ihre Kinder bei uns abladen, so als wären sie nur eine nervende Last.“ Die Kinder bräuchten in erster Linie die Liebe und Fürsorge der Eltern. „Wir können da trotz aller Betreuungsflexibilität nur ergänzend wirken“, meint die Erzieherin. Das sehen auch die Lorentssons so.

Oftmals sei die Arbeit nur ein vorgeschobenes Argument. „Der wahre Grund ist doch, daß kaum einer Einschnitte in seinem Lebensstandard hinnehmen möchte. Wenn es dann Institutionen gibt, die einem die Betreuung abnehmen, ist das natürlich verlockend“, meint Erik. Zumal der monatliche Kindergartenbeitrag in Schweden in der Regel unter 150 Euro liegt. Den Rest schießt der Staat zu. Und damit letztlich der Bürger, der mit hohen Steuersätzen das Betreuungssystem finanziert.

Ein System, das dennoch inzwischen an seine Grenzen stößt. „In vielen Kindergärten werden schon Gruppen zusammengelegt, um Kosten zu sparen“, verrät die junge Erzieherin, die auch davon spricht, daß die 24-Stunden-Kindergärten ausgeweitet werden sollen. „Aber die Sparzwänge werden wohl dafür sorgen, daß es dazu nicht kommen wird.“

Erik Lorentsson sieht das gelassen. Seine Mutter hatte früher in einer Bäckerei gearbeitet, mußte schon sehr früh morgens aus dem Haus. Sein Vater leistete einst Schichtdienst in einem Industriebetrieb. „Aber daß meine beiden Brüder und ich versorgt waren, das wurde innerhalb unserer Familie geregelt.“

Erst waren es Nachbarn und Großeltern, die sie betreuten. Später übernahm er selbst die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister. Lorentsson sieht daher vor allem in den zunehmend zerrütteten Familienverhältnissen die Ursache für Betreuungsengpässe.

„Lucas hat sich inzwischen daran gewöhnt, auch des öfteren im Kindergarten zu übernachten“, ist unterdessen Ella Persson überzeugt. Doch gerade die ersten Nächte ohne seine Mutter seien für ihn äußerst schwierig gewesen. Hätte sie ihren Sohn auch in einen 24-Stunden-Kindergarten geschickt, wenn die monatlich zwischen 1.000 und 1.800 Euro liegenden, von Steuergeldern bezahlten Kosten für einen Betreuungsplatz stattdessen an sie ausgezahlt worden wären? Ella Persson senkt den Kopf, denkt nach. Und findet keine Antwort. „Diese Alternative gibt es ja nicht“, meint sie schließlich. Dann blickt sie wieder auf und fragt: „Warum eigentlich nicht?“

 

Vorzeigemodell Schweden?

Schwedens Familienpolitik gilt vielen (vor allem Sozialdemokraten) hierzulande als vorbildlich: Das öffentliche Kinderbetreuungssystem ist gut ausgebaut, so daß die Eltern beide ihrem Beruf nachgehen können. Dazu werden sie auch durch das individuelle Steuermodell motiviert (kein Ehegattensplitting).

Die relativ hohe Geburtenrate (1,98 Kinder pro Frau) scheint den Befürwortern dieses Systems recht zu geben (zum Vergleich: in Deutschland beträgt sie 1,39 Kinder pro Frau). Allerdings wird dabei gern übersehen, daß Schweden seit 2008 auch ein Betreuungsgeld für Eltern anbietet.

Mit den Auswirkungen der auf Fremdbetreuung setzenden Familienpolitik befaßt sich am Samstag (25. Mai) in Frankfurt der Kongreß „Die moderne Familie?“, organisiert vom Familiennetzwerk und dem Institut für Bindungswissenschaften.

www.stiftung-familienwerte.de

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