© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Pankraz,
Julia Kristeva und das Paderborner Epos

Finanzpolitisch ist Europas Ruf durch Euro-Einführung und dessen Handhabung dauerhaft ruiniert, aber wie steht es sonst mit dem Ansehen dieses Erdteils in der Welt und vor sich selbst? Gibt es überhaupt (noch) ein Europa jenseits von Währungsmanipulation und Euro-Krise? Hat es je eine überzeugende und haltbare „Idee“ von Europa gegeben, mit der sich Identität stiften und Politik machen ließ?

Julia Kristeva, die postexistentialistische Pariser Philosophin und Psychoanalytikerin, hat zu einer „transökonomischen Identitätsfindung“ Europas aufgerufen und vorgeschlagen, dieses Europa zunächst einmal gründlich „auf die Couch zu legen“. „Europa als solches“, sagt sie, „hat sich nie ernsthaft mit seiner Geschichte auseinandergesetzt. Ich denke da nicht nur an die Schoa. Ich denke an die Inquisition, an die Pogrome, an den Kolonialismus, an den Machismo oder an die Kriege, die für den Kontinent verheerend gewesen sind und sich über die ganze Welt ausgebreitet haben.“

„Solange dieser verborgene Schatten nicht erforscht und einer Kritik unterzogen worden ist, wird Europa nicht vorankommen“, donnert Frau Kristeva – als hätte es bisher keine einschlägigen Forschungen und Analysen gegeben! Doch es geht ihr offenbar gar nicht um Forschung und Analyse; statt dessen soll jetzt Europa als Ganzes nach dem Vorbild der innerdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“ in eine kollektive Schuldgemeinschaft verwandelt werden.Von der Schulden- zur ewigen Schuldgemeinschaft – so stellt sich ein nicht unwichtiger Teil der europäischen Intelligenzija den weiteren Lauf der Dinge vor.

Parallelen zur altgermanischen Edda-Perspektive, wie sie Richard Wagner in seinem „Ring des Nibelungen“ in Musik gebracht hat, sind vorhanden. Die Europäer verfügen über den „Ring“, welcher Macht und schöpferische Kraft verleiht, aber um ihn behalten zu können, müssen sie sich bei der Zauberin Gullveig, der Herrin des Geldes, immer wieder verschulden. Sie sind schöpferisch und weltmächtig, doch sie stehen dafür tief in der Schuld, nur der Tod kann sie davon „befreien“. Das ist der in den Ring eingravierte Spruch des Schicksals, gegen den es keinen Einspruch gibt.

Natürlich sind das alles rein metaphysische Töne, die man wohl „nur“ in Musik setzen, über die man nicht rational, geschweige denn politologisch, sprechen kann. Politologisch verwertbare, auch für den Schulunterricht geeignete Diskurse über eine „Idee“ Europas jenseits des bloßen Wirtschaftens hatten immer schlechte Karten. Das fing schon mit der Geographie an: Einen Kontinent Eu-ropa gibt es gar nicht, der „Kontinent“ Europa ist in Wirklichkeit eine zauselige Peninsula des Kontinents Asia mit ungeklärten Grenzen, die dauernd hin und her geschoben wurden, je nach Politbedarf.

Die Etymologie des Wortes Europa ist ausgesprochen uneuroropäisch. Es soll der Name einer phönizischen Prinzessin gewesen sein, die Zeus auf einen Stier setzte, um mit ihr ins ferne Liebesnest zu reiten, wobei die Dame zuviel gequasselt haben soll, „barbarbarbarbar“. Die alten Griechen betrachteten sich keineswegs als Europäer; es gibt eine (eher beiläufige) Bemerkung von Herodot, worin er die Barbarenstämme im Norden pauschal als „Europäer“ bezeichnet, im Gegensatz zu denen aus Asien und Afrika (griech.: anhinke = unkalt).

Erst viele Jahrhunderte später tauchte der Begriff Europa zum ersten Mal in rein positiver Aktzentuierung auf, nämlich im Jahre 799 n. Chr. in der sogenannten Paderborner Handschrift, einem in feierlichen Hexametern verfaßten Bericht über die Begegnung des nachmaligen Kaisers Karls des Großen mit dem aus Rom vertriebenen Papst Leo III. in Paderborn, wo Karl während seiner Kriege gegen die Sachsen residierte. Der Papst erfleht (und bekommt) den Beistand des Frankenkönigs, und dieser wird emphatisch als „Herr Europas“ und „Europas erhabener Leuchtturm“ gefeiert.

Von da ab also sprach man nachgewiesenermaßen von der Idee Europa; es war die Idee der Vereinigung von Macht und Geist zum Schutze und zur Befestigung des Christentums. Bis dahin war man lediglich „Abendland“ gewesen, räumliche Abgrenzung von „Asien“, was ja Morgenland, Land der aufgehenden Sonne bedeutet. Ex oriente lux. Seit Karl und Papst Leo aber war Europa ausdrücklich das christliche Abendland, und dabei ist es geblieben. Es gab keine andere europäische Idee mehr.

Aufklärung, Klassik und Romantik haben daran nichts geändert. Für Leibniz und Voltaire war nicht Europa, sondern China der eigentliche Hort der Weisheit. Schopenhauer und der Morgenlandfahrer Hermann Hesse empfahlen den Blick in die Spiegel Indiens, um zu höchsten Einsichten zu kommen. Und was die Bewahrung genuin christlicher Traditionen angesichts sich entwickelnder Technik und Säkularisierung betrifft, traten an die Stelle Europas – mit welch merkwürdigen Überzeugungen auch immer – zunehmend die Vereinigten Staaten von Amerika.

Das gegenwärtige Europa dagegen hat, nach Exzessen von brutalem Kolonialismus gegenüber Mensch und Natur, offenbar nur noch bürokratische Regelungswut und Gleichmacherei zu bieten. Nicht nur das speziell christliche Abendland wird systematisch zerstört, sondern auch das gewissermaßen geograpische, seine landschaftliche und sprachliche Vielfalt, sein einst höchst präsenter Wille zum schöpferischen Sicheinlassen auf ständig wechselnde Situationen, sein Stolz auf eigene Traditionen und Modulationen.

Was ist dagegen zu tun? Der Rekurs auf das je Eigene ist jedenfalls überfällig, die entschlossene Suche nach Alternativen – und nicht zuletzt der Widerstand gegen Vorschläge, wie sie die Psychoanalytikerin und Schuldpredigerin Kristeva zur Zeit unter die Leute bringt. Eine Neuauflage der neudeutschen „Vergangenheitsbewältigung“, diesmal in riesigen europäischen Dimensionen? Das würde zwar die Analytiker selbst fett machen, aber es wäre das Allerletzte, was sich die Völker Europas leisten könnten. Es wäre ihr Untergang.

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