© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

CD: Wiéner/Doucet
Aus dem vollen Tastenleben
Jens Knorr

Ob nun befeuert von der Entdeckungslust des französischen Pianisten Alexandre Tharaud oder auch nur geleitet von Marketingerwägungen ob des Erfolgs seiner Einspielung von Arrangements des legendären Duos Jean Wiéner & Clément Doucet (JF 7/13), hat EMI France sämtliche Aufnahmen des Duos aus den Jahren 1925 bis 1938 auf vier CDs nachgereicht, und zwar in ausgezeichneter tontechnischer Aufarbeitung.

Nun sind sie wieder zu hören: Doucets Fantasy foxtrots, die „Chopinata“, die „Isoldina“ und die „Hungaria“, „A Little Slow Fox With Mary“ nach Kálman, „Haarlem Blues“ und „Clément’s Charleston“ und selbstverständlich auch der „Saint Louis Blues“, von Wiéner auf dem Cembalo gespielt – all die guten Bekannten von Tharauds Album, die aus der Menge von insgesamt 110 Titeln grüßen.

Doch nun sind sie anders zu hören. Muß sich Tharaud mit feinem, beinahe elegischem Ton des eben gehobenen Schatzes versichern, so konnten Wiéner & Doucet ins volle Tastenleben greifen. Sein Zugriff ist retrospektiv, ihrer war durchaus prospektiv. Beide Einspielungen sollten am besten nebeneinander gehört werden. Weil es das Beiheft zu Wiéner & Doucet nur in französischer Sprache gibt, muß sich der Sprachunkundige über die beiden allerdings anderweitig kundig machen, beispielsweise in dem Beiheft zur Tharaud-CD.

„Les Années Folles“, die verrückten Jahre, nennen die Franzosen jene Jahre, die bei uns Deutschen die Goldenen Zwanziger heißen, große Jahre auch des Duos Wiéner & Doucet. Der klassische ausgebildete Jean Wiéner aus dem Umkreis der Groupe des Six, der berühmten Gruppe sechs französischer Komponisten, war erst Hauspianist der „Gaya-Bar“, bevor er zum „Le Bœuf sur le Toit“ wechselte. Im Jahre 1924 begegnete er dem belgischen Pianisten Clément Doucet, der ihm ins „Bœuf“ folgte. Der gleichfalls klassisch ausgebildete Doucet war um 1920 in die USA gereist und 1923 als Jazz-Pianist zurückgekommen. In über 2.000 Konzerten als Duo, mit Unterbrechungen bis 1939, sowie solistisch und als Begleiter führender französischer Chansonniers prägten Wiéner und Doucet ihre französische Art der Amalgamierung von Tanzmusik, Jazz, Blues und Klassik aus.

In den erhaltenen Bach- und Mozart-Aufnahmen sind keine überragenden, jedoch ordentliche Spieler zu hören, in den Aufnahmen der Chansonniers mehr als nur ordentliche Begleiter. Außerordentlich sind sie als Interpreten eigener Arrangements. Ihre Adaptationen verschiedenster musikalischer Idiome offenbaren Phantasie und Witz, die aus einem tiefen Verständnis dieser Idiome kommen. Wiéner und Doucet begnügen sich nicht einfach mit der Parodie von Meisterwerken, wobei ja nur Meisterwerke überhaupt parodiefähig sind, sie legen es darauf an, deren Schöpfern auf die handwerklichen Schliche zu kommen. Die Grundmuster des Jazz erscheinen aus den verjazzten Vorlagen herausdestilliert, nicht in sie hineingetragen. Interpretation bleibt nicht länger Nach-, sondern wird zu Neuschöpfung!

Noch immer haben sich Unterhaltungsmusiker ihr Material aus der „ernsten“ Musik beschafft, aber nur die Großen haben damit wirklich etwas anfangen können. Hier sind zwei.

Wiéner & Doucet,Les Années Folles EMI Classics, 2013 www.XYZ.de  

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